I. Allgemeines.
Rn 6
Für die Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts (der lex fori) enthält II die bekannte Öffnungsklausel wie früher Art 7 II EVÜ und ex Art 34 EGBGB (dazu W.-H. Roth in Internationales Verbraucherschutzrecht 35, 56; relativierend BeckOGK/Maultzsch Rz 7 ff). Als solche gibt Art 9 statt einer klaren Kollisionsnorm eher einen ›Hinweis‹ auf Eingriffsnormen (so zum EGBGB Dörner JR 95, 18, 20 [BGH 26.10.1993 - XI ZR 42/93]). Diese kommen natürlich nur zum Zuge, wenn sie auch selbst Anwendung beanspruchen; manche sprechen hier von ›Inlandsbezug‹ (dazu Staudinger/Magnus Rz 81 ff, s schon Rn 5), doch ist dies kein Kriterium des Art 9 II, sondern eine Frage der Eingriffsnorm selbst. (aA Magnus Rz 84).
Rn 7
›Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts‹ umfassen neben der Rechtsordnung des Mitgliedstaates des Gerichts – nicht aber dem Recht anderer EU-Staaten (dazu s.u. Rn 27) – wohl auch das EU-Recht (vgl GA Szpunar, EuGH Rs C-135/15 Rz 120; aA Montfort Rev Lamy dr des aff 08, 82, 83). Zwar spricht schon Art 3 IV von ›Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts … von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann‹, indes nicht spezifisch von Eingriffsnormen. Auch regelt Art 3 IV nur die Situation der Rechtswahl und fordert zudem, dass ›alle anderen Elemente des Sachverhalts … in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen‹ sind (Art 3 ROM I Rn 27). Für die Erfassung europarechtlicher Eingriffsnormen wäre Art 3 IV mithin zu eng (vgl a Thorn in Ferrari/Leible 142 zu Art 3 V des Entwurfs; Th. Pfeiffer LMK 17, 388796). Sie fallen daher, soweit man die Europarechtsnorm nicht direkt wirken lässt (so Grüneberg/Thorn Art 6 ROM II Rz 6; wohl auch Garcimartín Alférez EuLF 08, I-61, I-65 Nr 23), unter Art 9 II (auch Hauser 140). Für etwa Art 101 f AEUV, die FusKoVO oder nach der Ingmar-Rspr die Handelsvertreter-RL 86/653 ist dies von Bedeutung (s.u. Rn 18 ff). Die Portabilitäts-VO 2017/1128 bestimmt in ihrem Art 7 II, dass sie ungeachtet des anwendbaren Vertragsrechts gilt (s Martiny FS Kronke, 351, 357 mwN).
Rn 8
Ein weites Feld hingegen ist, welche Normen ansonsten konkret über Art 9 durchgesetzt werden. Zu nennen ist neben Außenwirtschafts-, Devisen- und Kartellrecht etwa das Mietrecht und neueste Beispiele sind wohl das Covid-Moratorium nach Art 240 § 1 und § 5 EGBGB (vgl a Gössl ZVglRWiss 120 [21], 23, 31 ff; Lorenz in: Schmidt, COVID, 2. Aufl, § 1 Rz 82 u 84; lt MüKo/Martiny Rz 58d ›nicht klar‹; abl Erman/Stürner Rz 17; abl auch BeckOGK/Maultzsch Rz 226.1 wg des privaten Interessenausgleichs) sowie Maßnahmen der Seuchenbekämpfung (MPh Weller/Lieberknecht/Habicht NJW 20, 1017) – ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist hier auf wichtige Beispiele einzugehen:
II. Beispielsbereiche.
Rn 9
Das AGG ist über § 2 I Nr 7 AEntG nF (ex § 7 I Nr 7 AEntG) bei Beschäftigung im Inland zwingend anzuwenden (ErfK/Franzen § 2 AEntG Rz 5; vgl Calliess/Renner/Renner Art 9 Rz 25); iÜ hat zum AGG die Diskussion erst begonnen (Junker 30; Schrader/Straube NZA 07, 184; Mansel FS Canaris I 809), viel spricht für Eingriffsnormcharakter (umfassend Lüttringhaus Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz [10]; vgl a Thon IPRax 19, 301, 305).
Rn 10
Regeln des Arbeitskräfteüberlassungsgesetzes können Eingriffsnormen sein (zum österr und deutschen Recht öst OGH JBl 09, 788; in Dtld aber Hennecke ZESAR 17, 63 ff), für § 9 Nr 1 AÜG aF soll dies entgegen aA nicht gelten, BAG 9 AZR 228/21, RIW 22, 776, 783 m abl Anm Brors 724, 726 f – insges zum Arbeitsrecht unten Rn 26.
Rn 11
Außenwirtschaftsrechtliche Verbote in AWG und AWV (Erman/Stürner Art 9 Rz 14; Beyer GRUR 21, 1008, 1016) sowie KrWaffKontrG stellen Eingriffsnormen dar (Remien RabelsZ 90, 431 ff; MüKo/Martiny Art 9 Rz 61 ff). Die Rechtsunwirksamkeit bei Fehlen einer erforderlichen Genehmigung regelt § 15 AWG (zur Vertragsgestaltung bei Unternehmenserwerb Mohamed JZ 19, 766, 775f); allerdings beschäftigen derartige Fälle eher die Straf- als die Zivilgerichte (zur Vermittlung eines Vertrags über außerhalb des Bundesgebiets befindliche Kriegswaffen BGH NStZ 94, 135). Auch die EU VO 428/2009, 1504/04 und 1334/00 über Technologien und Güter mit doppeltem Verwendungszweck sind zu nennen, ferner spezielle Embargo-VO (zu Libyen Gericht Budapest Gf. 40608/2017/12 bei Nagy in Guinchard 258). Neue Sanktionen werfen erneut Fragen auf (kurz Kessedjian Clunet 14, 809; zu Iran-Sanktionen Frankf ZIP 11, 1354). Die durch DVO 2020/402 angeordnete Untersagung der Ausfuhr bestimmter Produkte ist Eingriffsnorm (so a Lorenz in: Schmid, aaO, § 1 Rz 83; s.a. MüKo/Martiny Rz 58c). Der Ukrainekonflikt hat zu bereits mehreren Sanktionspaketen geführt (ab VO 2022/260, ABl L 421, bzgl Krim ua schon VO 692/2014; s zuletzt VO 2023/1214, 2023/1215, 2023/1216, ABl L 1591).
Rn 12
Berufsrechtliche Regelungen sind zT als Eingriffsnormen anerkannt worden (Soergel/v Hoffmann Art 34 Rz 41 ff; krit Martiny FS Heldrich 907 ff), so das Verbot des Erfolgshonorars bzw quota litis durch § 49b BRAO (Frankf RIW 01, 374; Grüneberg/Thorn Art 9 Rz 10; aA Ferrari/