I. Allgemeines.
Rn 31
Drittstaatliche Eingriffsnormen – und seien sie ›vom Ende der Welt‹ (Montfort Rev Lamy dr des aff 08, 82, 83) – werden nun in III ausdrücklich geregelt, aus deutscher Sicht wird damit die durch den Vorbehalt gegen Art 7 I EVÜ entstandene Regelungslücke des ex Art 34 EGBGB geschlossen. Art 9 III hat allerdings nicht die ›enge Verbindung‹ des Art 7 I EVÜ übernommen (Montfort Rev Lamy dr des aff 08, 82, 83), sondern bringt wohl eine besondere Einschränkung (EuGH Rs C-135/15 Nikiforidis Rz 45; krit Corneloup JCP 08 Doctr 205 Nr 15; Bonomi in: Cashin Ritaine/Bonomi 234; auch Kohler FS Kronke 253, 260: paritätische Behandlung). Der EuGH bezeichnet die Aufzählung des Art 9 als abschließend (ebd Rz 49), lässt zu Recht daneben aber die Berücksichtigung als tatsächliche Umstände zu (u Rn 45 f). Art 9 III ROM I ist eine Kompromissregelung und findet in Art 16 ROM II keine direkte Entsprechung (unten Art 16 ROM II Rn 5). Der VO-Geber tut sich schwer, klare und angemessene Regeln zu setzen – obwohl die Wissenschaft dies alles seit Jahrzehnten diskutiert (Wengler ZVglRWiss 54 (41) 168 ff; Zweigert RabelsZ 14 (42) 283 ff; Francescakis Rev crit d i p 66, 1 ff; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht vor deutschen Gerichten, 1986; Schnyder Wirtschaftskollisionsrecht, 1990) und auch einige Erfahrungen der Rspr vorliegen (zu Deutschland unten Rn 35 ff).
II. Drittstaaten und EU/EWR-Mitgliedstaaten als Drittstaaten.
Rn 32
›Recht des angerufenen Gerichts‹ nach Art 9 II ist nur das Recht dessen, nicht eines anderen Mitgliedstaates und III unterscheidet nicht zwischen Eingriffsnormen von EU-Mitgliedstaaten und denen anderer Staaten (s.a. Freitag IPRax 09, 112; Kuckein 62f). Also kann Drittstaat ein EU/EWR-Mitgliedstaat sein. Dann ist mE zu unterscheiden: (1.) Handelt es sich um eine Norm zur Umsetzung einer EU-Richtlinie, greift aber nicht schon Art 46b EGBGB ein, so liegt nur formell eine fremde, materiell infolge des europäischen Richtlinienhintergrundes aber eine eigene Eingriffsnorm vor. Sie ist also zu beachten (für Art 9 III aber Hauser 140). (2.) Bei autonomen Eingriffsnormen anderer EU-Mitgliedstaaten ist die Lage anders. In der Lit wird vertreten, hier bestehe nach EUV/AEUV und EuGVVO eine Anwendungspflicht (Fetsch Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 02, 319 ff; Armbrüster VersR 06, 1, 4 f; mit Art 4 III EUV argumentierend Roth in: Kieninger/Remien 44 f; Kohler FS Kronke 253, 261, 263 f; abl v Bar/Mankowski Rz 4/117; zurückhaltend Heinemann JZ 02, 988). Jedenfalls in solcher Pauschalität scheint dies indes nicht richtig (näher Remien, FS v Hoffmann, 334, 340 f; abl a Hauser 144f). Noch heute gibt es zT in mitgliedstaatlichen Normsystemen einzelne Regeln, die in anderen Mitgliedstaaten als Unrecht angesehen werden oder deren Wertung nicht geteilt wird. Nur bei grundlegender Wertungskonvergenz kann sich daher aus der Unionstreue über Art 9 III hinaus eine Pflicht zur Beachtung einer autonomen Eingriffsnorm eines anderen Mitgliedstaates ergeben. Der EuGH lehnt zu den griechischen Spargesetzen die Heranziehung von Art 4 III EUV sogar ganz ab und verweist auf den abschließenden Charakter von Art 9 (EuGH Rs C-135/15 Nikiforidis, Rz 54). Jedoch folgt aus der EntsendeRL 96/71/EG, dass ein entsandter Arbeitnehmer sich auch in seinem Wohnsitzstaat auf Mindestlohnvorschriften des anderen Mitgliedstaats berufen kann (EuGH 8.7.21 – Rs C-428/19, OL, ECLI:EU:C:2021:548).
Rn 33
Überdies ist es wie in Deutschland auch in anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht stets leicht (einige Hinweise aber in den Berichten bei Guinchard, Rome I and Rome II in practice, 20), den Eingriffscharakter einer Regelung festzustellen (bejahend für französische Formvorschrift für Schiffskauf etwa Cass Rev crit dip 05, 55 m krit Anm Lagarde; bejahend für Direktanspruch des Subunternehmers Cass Petites Affiches 08 Nr 77 5, aA Cass D 07 Jur 2008 m Anm Borysewicz/Londe = Rev trim dr com 07, 631, zum Problem Kondring RIW 09, 118; aber Frankreichbezug erforderlich, Cass Rev crit dip 11, 624 mAnm Ancel, Cass Clunet 18, 125 m Anm Brière; für Kartellrecht Cass 8.7.20, Clunet 21, 1328 m Anm Pironon; verneinend für Nichtigkeitsnorm des frz Subunternehmergesetzes Trib Padua 22.12.2017, dazu in Frankreich Cass 15.6.22, Rev crit dip 22, 764 m Anm Bureau; für Arbeitnehmerüberlassungsgesetz OGH JBl 09, 788; zu ua AGB-Kontrolle – Expedia – nach Art 1171 Cc Amariles ua, JBL 18, 148; Heyraud Clunet 18, 535; zu ausländischen Corona-Regelungen Gössl ZVglRWiss 120 (2021) 23, 36 ff; verneinend für Frachtzahlungsanspruch des Beförderers gegen den Empfänger Cass Clunet 11, 91 m Anm Jault-Seseke sowie Cass Rev crit dip 10, 720 und abl für Bürgenschutz Cass 16.9.2015, 14–1D.373, Rev crit dip 16, 132 Anm Bureau/Muir Watt). Die über § 89b HGB hinausgehende französische Entschädigung des Handelsvertreters ist in einem Fall der Tätigkeit in Deutschland nicht als loi de police angesehen worden (Cass 14–10628, ECLI:FR:CCASS:2016:CO00001), zum Ausgleichsanspruch des türk Handelsvertreters oben bei Rn 18, ein wettbewerbsrechtliches Verbot der Auferle...