Rn 45
Materiell-rechtliche Berücksichtigung hat Tradition in verschiedenen Mitgliedstaaten und wird durch Art 9 III nicht eingegrenzt: dieser modifiziert weder Verträge noch staatliches materielles Recht. Dies hat nun der EuGH in Sachen griechischer Spargesetze bestätigt (EuGH Rs C-135/15 Nikiforidis Rz 51 ff, dem folgend Frankf NJW 18, 3591 [OLG Frankfurt am Main 25.09.2018 - 16 U 209/17]; zust Kokott/Rosch FS Kronke 265, 273; abl Kohler FS Kronke 253, 260 ff, tw Maultzsch, FS Kronke 363, 368 ff). Berücksichtigung über § 138 BGB wird zwar vielfach als ›Wirkung verleihen‹ iSd Art 9 III zu betrachten und eine Sperrung durch den Art 9 III konsequent sein (so in der Tat Freitag IPRax 09, 115; a Grüneberg/Thorn Art 9 Rz 14; ferner Hauser 116; krit v Hein, in: Bruns/Suzuki aaO 145, 163). Anwendung von §§ 275, 241 II, 313, 314 BGB bleibt aber ungehindert (so a Grüneberg/Thorn Art 9 Rz 14; selbst Maultzsch aaO 370 f; Hambg IPRax 20, 359 [OLG Hamburg 06.06.2019 - 11 U 257/18] m Anm Gernert IPRax 20, 329). Die VO regelt IPR und vereinheitlicht nicht das materielle Vertragsrecht (zust. GA Szpunar zu EuGH Rs C-135/15 Rz 102 ff; schwankend BeckOGK/Maultzsch Rz 157).
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Ausländische Eingriffsnormen können eine tatsächliche Wirkung entfalten und daher als Tatsache zu berücksichtigen sein. Es geht dann um Berücksichtigung iRd anwendbaren materiellen Rechts statt um Anwendung der Norm. Schon das RG ist entspr vorgegangen und hat wegen des englischen Feindhandelsverbots tatsächliche Unmöglichkeit angenommen (RGZ 93, 182; vgl auch RG Gruchot 61, 460; eingehend v Bar/Mankowski Rz 4/122 ff). Bei ausl Staatsunternehmen ist dies zweifelhaft (vgl O. Mörsdorf, JZ 18, 156, 159 f zu LG Frankfurt/M ebd 153, anders Frankf NJW 18, 3591; München NJW-RR 20, 1061 [OLG München 24.06.2020 - 20 U 6415/19]). Man sollte strengere Anforderungen stellen (locker indes Frankf aaO; härter Frankf GWR 11, 340 = BeckRS 11, 16032). Die bloße Behauptung von Sanktionen beim arabischen Israel-Boykott sollte wohl nicht ausreichen (dem Frankf. zust aber Tonner NJW 18, 3595; Mankowski RIW 19, 180, 182 f; Mäsch JuS 19, 386 [OLG Frankfurt am Main 25.09.2018 - 16 U 209/17]; für Beachtung nur bei Vollstreckung dagegen Weller/Lieberknecht JZ 19, 317, 325). Der BGH hat zur Geschäftsgrundlage (BGH NJW 84, 1746 [BGH 08.02.1984 - VIII ZR 254/82], dazu Baum RabelsZ 89, 146, 152) und zu § 826 gegriffen (BGH JZ 91, 719 [BGH 20.11.1990 - VI ZR 6/90]; dazu Junker JZ 91, 699). IRd Wiener UN-Kaufrechts ist an Art 79 CISG zu denken (zum Haager Sensorfall RabelsZ 47 (83) 141 m Anm Basedow, s.a. Remien RabelsZ 90, 409, 470f). Arbeitsrechtlich kann eine Änderungskündigung gerechtfertigt sein (BAG IPRax 2018, 86 [BAG 26.04.2017 - 5 AZR 962/13] m Aufs Siehr 44 ff – Nikiforidis). Einige bezeichnen dies als ›Datum-Theorie‹ (etwa Mülbert IPRax 86, 140), doch ist dieses Etikett überflüssig und als alleiniges allg Konzept unbrauchbar (vgl zur Thematik auch Staud/Magnus Art 9 ROM I Rz 140). Die materiell-rechtliche Berücksichtigung hat durchaus ihre Berechtigung. Sie ist aber etwas gänzlich anderes als Sonderanknüpfung, denn auch eine inhaltlich missbilligte Norm kann tatsächlich zu berücksichtigen sein, wie die alte deutsche Rspr zu englischen Feindhandelsverboten eindrucksvoll demonstriert. Die materiell-rechtliche Berücksichtigung ist also möglich, auch wenn die Kriterien einer Sonderanknüpfung nicht erfüllt sind (richtig Kropholler § 52 X d); von einem Ergänzungsverhältnis spricht Berger FS Horn, 322, 336). Ihre Maßstäbe sind eine Frage der Vertragsgestaltung und des anwendbaren materiellen Rechts (großzügig die Clunet 06, 722 berichtete schwedische Entscheidung zu US Libyen-Embargo).