Prof. Dr. Eckart Brödermann
Gesetzestext
(1) Das Zustandekommen und die Wirksamkeit des Vertrags oder einer seiner Bestimmungen beurteilen sich nach dem Recht, das nach dieser Verordnung anzuwenden wäre, wenn der Vertrag oder die Bestimmung wirksam wäre.
(2) Ergibt sich jedoch aus den Umständen, dass es nicht gerechtfertigt wäre, die Wirkung des Verhaltens einer Partei nach dem in Absatz 1 bezeichneten Recht zu bestimmen, so kann sich diese Partei für die Behauptung, sie habe dem Vertrag nicht zugestimmt, auf das Recht des Staates ihres gewöhnlichen Aufenthalts berufen.
A. Einführung.
Rn 1
Art 10 ist unverändert aus dem EVÜ (Art 8 EVÜ; ex Art 31 EGBGB) übernommen worden. I beruft das hypothetische Vertragsstatut. Die Vorschrift hat sich in der Praxis bewährt (Mankowski IHR 08, 133, 149). Er regelt das Zustandekommen, die Wirksamkeit und die Wirkungen des Schuldvertrages und seiner Bestimmungen und enthält ein bereits seit der Reform des deutschen Internationalen Schuldvertragsrechts durch Inkorporation des EVÜ im Jahre 86 bestehendes Bekenntnis zum Einheitsstatut (MüKo/Spellenberg Art 10 Rz 9), gleich ob das Vertragsstatut durch ausdrückliche Rechtswahl oder durch objektive Anknüpfung bestimmt ist. Möglichst das gesamte Vertragsverhältnis soll einer einzigen Rechtsordnung unterstehen; insoweit wird Art 10 durch Art 12 ergänzt (MüKoIPR/Spellenberg Art 12 Rz 1–3). Art 10 II enthält als Korrektiv eine (kollisionsrechtliche) Ausnahme vom Vertragsstatut, wenn aus Billigkeitsgründen die Geltung des Vertragsstatuts wegen der Wertung des Verhaltens einer Partei nicht gerechtfertigt wäre (dazu schon BGHZ 57, 72, 77; insgesamt Linke ZVglRWiss (80) 1).
Rn 2
Das Einheitsstatut kann durch andere Rechtsordnungen ergänzt werden, soweit es Sonderanknüpfungen gibt: zB zur Form (Art 11 EGBGB), zur organschaftlichen Vertretung (s IPR-Anh 4/IntGesR Rn 10) oder zur Stellvertretung (Art 8 EGBGB).
B. Grundsatz des einheitlichen Vertragsstatuts (Abs 1).
I. Anwendungsbereich und allgemeine Regeln.
Rn 3
Das einheitliche Vertragsstatut regelt gem Art 10 I auch das Zustandekommen und die materielle Wirksamkeit des Vertrages, soweit nicht unionsrechtliche Regelungen oder staatsvertraglich geregelte Vereinheitlichung im Vertragsrecht greifen: insb Art 14–24 CISG, dazu Staud/Hausmann Art 10 Rz 7 f. Das einheitliche Vertragsstatut findet grds auf die Einbeziehung von AGB Anwendung (Grüneberg/Thorn Art 10 Rz 3; BGHZ 123, 380; Hambg BeckRS 14, 06734; für Rechtswahlklausel in AGB: Hamm NJOZ 15, 1369, 1371; LG Hamburg NJOZ 15, 535, 536; München IPRax 91, 46, 48 [OLG München 28.09.1989 - 24 U 391/87]), es sei denn, dass sich aus Art 14 CISG oder den Regelungen zur Anwendung von zwingendem Recht (zB Art 6, 8 oder Art 46b EGBGB; s ferner Rn 7) etwas anderes ergibt. Bei widersprechenden Rechtswahlklauseln in AGB bietet es sich an, zunächst ohne Rücksicht auf die beiden Rechtswahlklauseln das hypothetische Vertragsstatut nach I zu ermitteln und ggf – bei Anwendung des CISG über von Art. 1 I lit b – anschließend nach dem autonomen Maßstab des CISG zu ermitteln, ob die AGB (und damit die Rechtswahlklausel und ggf eine CISG-Ausschlussklausel) wirksam in den Vertrag einbezogen wurde (iE str, s Beck-Online Großkommentar/Weller Art 10 Rom I-VO Rz 62). Das einheitliche Vertragsstatut gilt weiter für Schweigen auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben (MüKoIPR/Spellenberg Art 10 Rz 60 ff mwN; Grüneberg/Thorn Art 10 Rz 5; s.a. Rn 7 und II) und für die Frage, ob moderne Erscheinungsformen Künstlicher Intelligenz wie Chatbots zu Vertragsabschlüssen führen.
Rn 4
Das einheitliche Vertragsstatut gilt nicht im Anwendungsbereich von Art 4 lit a CISG für Fragen der materiellen Gültigkeit des Vertrages oder einzelner Vertragsbestimmungen (einschließlich Inhaltskontrolle von AGB, s Rn 7). Ferner wird es verdrängt durch zwingendes Recht (zB iSv Art 3 IV) und internationale Eingriffsnormen (Art 9).
Rn 5
Art 10 spricht eine Sachnormverweisung aus (vgl Art 20). Die Anwendung des von Art 10 berufenen Rechts unterliegt der ordre-public-Kontrolle nach Art 21.
II. Einzelfragen.
Rn 6
Das Zustandekommen betrifft den äußeren Vertragsabschlusstatbestand, nämlich das zum Vertragsschluss führende Handeln der Parteien (arg ›Verhalten‹ in II; MüKoIPR/Spellenberg Art 10 Rz 46), während die Wirksamkeit den inneren Vertragsabschlusstatbestand meint, also alle Fragen des gültigen Vertragsschlusses, die nicht dem Zustandekommen oder der Formgültigkeit zuzurechnen sind (MüKo aaO).
1. Zustandekommen des Vertrages.
Rn 7
Zum Zustandekommen des Vertrages gehören alle Fragen von Angebot und Annahme: Zugang des Angebotes (vgl auch BGH NJW-RR 11, 1184 [BGH 21.06.2011 - II ZB 15/10]); Auslegung des Angebotes (zur Auslegung als Angebot oder Vertrag: Frankf NJW-RR 89, 1018); Annahme des Angebotes (Köln NJW-RR 97, 182, 183); Abgabe einer Willenserklärung im eigenen Namen oder als Stellvertreter (Köln NJW-RR 21, 1109 [OLG Köln 22.03.2021 - 16 U 165/20]); auch verspätete Annahme oder Annahme unter Abänderungen, widerspruchslose Entgegennahme eines Bestätigungsschreibens (BGHZ 135, 124, 137; zu Besonderheiten des internationalen Vertragsschlusses per Internet Mankowski RabelsZ (99), 203 und zur zwingenden Anwe...