Prof. Dr. Eckart Brödermann
Rn 12
Die ROM I ist Unionsrecht und daher unionsrechtlich auszulegen (EuGH C-135/15 Nikiforidis = ECLI:EU:C: 2016:774 Rz 29). Dies erfordert eine autonome Auslegung, weil das Unionsrecht eine Rechtsordnung sui generis ist. Zur Anwendung dieser Methodik sind die mitgliedstaatlichen Gerichte nach dem Grundsatz der Unionstreue in Art 4 III EUV verpflichtet. Bei der Auslegung kann zwar auf klassische, dem deutschen Juristen bekannte Auslegungsmethoden zurückgegriffen werden, doch haben sie eine spezifisch europäische Prägung. Durch die Vielfalt der Europäischen Union potenzieren sich die Anforderungen.
Rn 13
Unionsrechtliche Auslegung (s.a. die Einleitung BGB Rn 35 f; Rauscher/von Hein Einl ROM I Rz 53 ff) erfordert die Berücksichtigung: (1) des Wortlauts: Da alle sprachlichen Fassungen gleichberechtigt im gesamten Hoheitsgebiet der EU gelten (s.o. Rn 3), sind bei der Auslegung eines Begriffs der ROM I stets auch die anderen sprachlichen Fassungen heranzuziehen. Die Praxis zeigt, dass die deutsche Fassung häufiger von anderen Fassungen abweicht. Kann die deutsche Fassung in verschiedener Weise verstanden werden, weist der Vergleich mit anderen Fassungen oft den Weg. Alle amtlichen Fassungen von ROM I sind über das Internet verfügbar (www.eur-lex.europa.eu); (2) der Entstehungsgeschichte: Hierzu kann auf die in Rn 14 genannten Materialien zurückgegriffen werden, vieles wird bereits in den Erwägungsgründen konkretisiert; (3) der unionsrechtlichen Systematik: Die Begriffe der ROM I sind Bestandteil eines streng miteinander verknüpften Systems des Unionsrechts auf der Grundlage des EUV und des AEUV (da die EU aufgrund Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon seit 1.12.09 Rechtsnachfolger der EG ist, Art 1 III 3 EUV, ist unerheblich, dass die ROM I bei ihrer Entstehung auf dem EGV beruhte). So werden dieselben Begriffe in verschiedenen Rechtsinstrumenten verwendet und sollen nach der Systematik des Unionsrechts einheitlich verstanden werden. Insb sind die ROM I, die ROM II und die Brüssel Ia (sowie ihre Vorgängerin, die EuGVO oder Brüssel I-VO) ›im Einklang‹ miteinander auszulegen: Erw 7 von ROM I und ROM II, EuGH Urt v 28.7.16 – C-191/15 – Amazon, RIW 16, 674, Rz 36; s zB Urt v 31.1.19 – C-149/18 – da Silva Martins, ECLI:EU:C:2019:84 Rz 28 zum Begriff ›Eingriffsnormen‹; s ferner zB Art 1 ROM I Rn 6 zu dem ua auch in der Brüssel Ia-VO verwendeten Vertragsbegriff; s.a. BGH NJW 11, 2809 ff [BGH 31.05.2011 - VI ZR 154/10]; Crawford/Carruthers ICLQ 14, 1, 11 ff; Köck, Die einheitliche Auslegung der ROM I-, ROM II- und Brüssel I-Verordnung im europäischen internationalen Privat- und Verfahrensrecht, Diss 2014).
Rn 14
(4) va aber des Ziels der Norm (teleologische Auslegung) und insb die Suche nach dem effet utile: Die ROM I ist so auszulegen, dass ihre Ziele – insb die Schaffung eines einheitlichen Internationalen Schuldrechts für die Europäische Union und die Stärkung des europäischen Rechtsraums (Erw 6 und 1) – so gut wie möglich erreicht werden und die Bestimmungen der ROM I ihre volle Geltung entfalten können (vgl zB EuGH Urt v 19.6.90 – C-213/89 Slg 90, I-2433 – Factortame; Nicolaysen Europarecht I, § 3 IV, insb S 103; Kropholler § 10 III 2e S 81; dies bedeutet auch, ggf entgegenstehendes nationales Recht nicht anzuwenden, s EuGH (Große Kammer) 4.12.18 – C-378/17); (5) der allgemeinen Rechtsgrundsätze und der Rechtsvergleichung: Bei der Bestimmung des autonomen Inhalts von unionsrechtlichen Begriffen sind nach der Praxis des EuGH allgemeine Rechtsgrundsätze zu beachten, die sich aus der rechtsvergleichenden Betrachtung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten erschließen. Zu diesem Zweck kann auch auf die European Principles of International Commercial Contracts (›PECL‹) oder den – bisher rein akademischen – Entwurf eines Gemeinsamen Referenzrahmens (Draft Common Frame of Reference, kurz DCFR) zurückgegriffen werden, der wie ROM I Teil des Haager Programms (s.o. Rn 1) ist; der DCFR beruht auf rechtsvergleichender Betrachtung aller Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (SGECC/Acquis Group, DCFR, Introduction Nr 21); eingehend Jansen/Zimmermann (Hrsg), Commentaries on European Contract Laws (2018, 2.218 S.); (6) der Rechtsprechung des EuGH und der nationalen Gerichte in den verschiedenen Mitgliedsaaten; (7) des internationalen Schrifttums zu ROM I von Juristen aus unterschiedlichen Rechtsordnungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten in ihren jeweiligen Sprachen.
Rn 15
Im Zweifel haben die Gerichte Auslegungsfragen dem Gerichtshof nach Art 267 AEUV vorzulegen. Der Instanzenrichter kann, der letztinstanzliche Richter muss eine Auslegungsfrage dem EuGH vorlegen.