1. Grundlagen.
Rn 8
Eine empfangsbedürftige Willenserklärung wird erst mit Zugang beim abwesenden Empfänger wirksam. Zugegangen ist die verkörperte Erklärung sobald sie derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass die Möglichkeit der Kenntnisnahme besteht und unter gewöhnlichen Verhältnissen mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist (BGHZ 67, 275; 137, 205, 208; NJW 04, 1320; NZI 15, 376; BAG NJW 93, 1093; 19, 3666 Tz 12; NZA 15, 1183 Tz 37; BSG NJW 05, 1304 [BSG 07.10.2004 - B 3 KR 14/04 R]; aA Flume AT 230 ff). Ziel ist eine angemessene Risikoverteilung. Der Absender trägt das Versendungs- und Transportrisiko. Nach Eingang in seinen Machtbereich trägt der Empfänger die aus seiner Sphäre stammenden Risiken. Erfolgt die Kenntnisnahme zuvor, ist die Erklärung damit zugegangen (Neuner AT § 33 Rz 18). Eine formbedürftige Erklärung muss in der vorgeschriebenen Form zugehen. Beim gesetzlichen Schriftformerfordernis genügt eine – auch beglaubigte – Kopie nicht (BGH NJW 97, 3170 [BGH 30.07.1997 - VIII ZR 244/96]).
Rn 9
Der va räumlich verstandene Machtbereich umfasst die Wohnung bzw Geschäftsräume, aber auch besondere Empfangseinrichtungen, wie den Hausbriefkasten (BGH NJW 79, 2033 [BGH 12.06.1979 - VI ZR 212/77]; BAG NZA 15, 1183 [BAG 26.03.2015 - 2 AZR 483/14] Tz 37; nicht Lagerbriefkasten des Erklärenden, München BeckRS 15, 15128), ein Postfach (Celle NJW 74, 1386 [OLG Celle 09.04.1974 - 11 U 156/73]) oder einen Anrufbeantworter. Ausreichend soll die in eine nicht einsehbare Tür eines Einfamilienhauses geklemmte Erklärung sein (LAG Hamm MDR 93, 658). Ein allg zugänglicher Hausflur genügt nicht (aA LAG Düsseldorf MDR 01, 145 [LAG Düsseldorf 19.09.2000 - 16 Sa 925/00], für Einwurf in Briefschlitz eines Mehrfamilienhauses). Va bei der Telekommunikation ist die lokale Sicht des Machtbereichs durch ein funktionales Verständnis zu ergänzen, vgl Rn 14. Unzureichend ist, wenn die einzige Ausfertigung einer schriftlichen Kündigungserklärung dem ArbN lediglich kurz zur Empfangsquittierung und anschließender Rückgabe an den ArbG übergeben wird (Ddorf NZA-RR 18, 653).
Rn 10
Ob die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand und ob diese zu erwarten war, ist nach den üblichen Verhältnissen und den Gepflogenheiten des Verkehrs zu beurteilen (BAG NJW 19, 3666 [BAG 22.08.2019 - 2 AZR 111/19] Tz 12). Technische Einrichtungen (Mailbox) müssen dem Empfang gewidmet sein. Dafür ist auf die gewöhnliche Leerung des Hausbriefkastens bzw die Geschäftszeiten oder üblichen Bürostunden abzustellen. Wegen der erforderlichen Verkehrssicherheit bedarf es hier einer überregionalen, verallgemeinernden Beurteilung (vgl Rn 11). Individuelle Umstände, wie eine freiwillige (Urlaub) oder unfreiwillige (Krankheit, Haft, LAG Schleswig-Holstein BeckRS 14, 68047) Ortsabwesenheit des Empfängers, sind grds unerheblich (BGH NJW 04, 1320 [BGH 21.01.2004 - XII ZR 214/00]; BAG NJW 93, 1093 f [BAG 11.11.1992 - 2 AZR 328/92]; 18, 2916 Tz 15). Dies gilt selbst dann, wenn dem Absender die Abwesenheit und die geänderte Anschrift bekannt sind (BAG NJW 89, 607 [BAG 16.03.1988 - 7 AZR 587/87]; BeckRS 12, 72009 Tz 21, urlaubsbedingte Ortsabwesenheit), da sonst das Übermittlungsrisiko verlagert wird. Auch das Sprachrisiko ist als Zugangsproblem zu behandeln (Hamm NJW-RR 96, 1271 [OLG Hamm 08.02.1995 - 11 U 206/93]). Abzustellen ist darauf, ob der Erklärende damit rechnen durfte, dass der Empfänger die Sprache der Erklärung versteht (vgl BGH NJW 95, 190; BeckOGK BGB/Gomille § 130 Rz 88; Empfängerrisiko LAG Köln NJW 88, 1870 [LAG Köln 24.03.1988 - 8 Ta 46/88]). Dies gilt für die Sprache der Vertragsverhandlungen, der im Vertrag festgelegten Sprache und die Muttersprache des Empfängers. Entspr gilt für die Lesefähigkeit, etwa einer sehbehinderten Person oder bei mangelnder Alphabetisierung (s.a. Großfeld/Hülper JZ 99, 430, 432).
2. Einzelfälle.
Rn 11
Ein Brief geht durch Einwurf in den Briefkasten des Empfängers am selben Tag zu, wenn gem der Verkehrsanschauung nach diesem Zeitpunkt noch mit einer Leerung gerechnet werden kann (BGH NJW 19, 1151 [BGH 14.02.2019 - IX ZR 181/17] Tz 11; NJW 04, 1320, 10 [BGH 21.01.2004 - XII ZR 214/00] Uhr). Nach der jüngsten Rechtsprechung des BAG soll die Verkehrsanschauung durch die allgemeinen örtlichen Postzustellungszeiten geprägt sein, selbst wenn diese variieren. Durch eine derart differenzierte Beurteilung ist indessen die erforderliche Rechtssicherheit nicht mehr gewährleistet. Eine gewandelte Verkehrsanschauung kann jedoch anzunehmen sein, wenn aufgrund veränderter Lebensumstände der Hausbriefkasten später geleert wird (BAG NJW 19, 3666 Tz 15f). Allgemeingültige starre Termine entsprechen dieser Judikatur nicht, so etwa, wenn beim Einwurf um 14 Uhr ein Zugang am gleichen Tag erfolgen (LG Stuttg BB 02, 380 [LG Stuttgart 20.12.2001 - 20 O 467/01]) und eine später als 16 Uhr eingeworfene Erklärung am folgenden Werktag zugehen soll (LG Köln NZA-RR 11, 180, 181 [LAG Köln 17.09.2010 - 4 Sa 721/10]; bei Einwurf um 16.30 Uhr, BAG NJW 84, 1651 [BAG 08.12.1983 - 2 AZR...