Rn 27
Bei der Schließung einer vertraglichen Lücke ist darauf abzustellen, was von den Parteien bei einer angemessenen Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragspartner vereinbart worden wäre, wenn sie den von ihnen nicht geregelten Fall bedacht hätten. Dabei ist zunächst an den Vertrag selbst anzuknüpfen (BGH GRUR 20, 57 [BGH 17.10.2019 - I ZR 34/18] Tz 37). Um den Vorrang der Privatautonomie zu wahren, ist der Vertrag primär auf Grundlage des hypothetischen Parteiwillens und sekundär durch das dispositive Gesetzesrecht zu ergänzen. Dies gilt, soweit eine Heranziehung des dispositiven Rechts dem Willen der Vertragsparteien widerspricht (BGH NJW 75, 1117 [BGH 06.03.1975 - II ZR 80/73]), wenn es regelmäßig abbedungen wird (BGH NJW 79, 1705), falls das dispositive Recht keine passende Regelung enthält oder der gewählte Vertrag gesetzlich nicht geregelt ist (BGHZ 90, 75). Diese Rangfolge besteht auch, wenn die Vertragslücke durch abdingbares Recht geschlossen werden könnte. Es existiert kein allg Vorrang des dispositiven Gesetzesrechts (BGHZ 167, 139 Tz 10; BGH NJW 10, 1742 Tz 18; Erman/Armbrüster § 157 Rz 19; Schiemann Eckpfeiler des Zivilrechts, D 50; aA BGHZ 40, 103; 90, 75; Grüneberg/Ellenberger § 157 Rz 4).
Rn 28
Zur Ergänzung des Vertrags ist auf den hypothetischen Parteiwillen abzustellen. Auszugehen ist davon, was die Parteien bei einer angemessenen Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragspartner vereinbart hätten (BGHZ 111, 218; BGH NJW 97, 652). Dafür ist zunächst an den Vertrag selbst anzuknüpfen. Die darin enthaltenen Regelungen und Wertungen, sein Sinn und Zweck bilden den Ausgangspunkt der Vertragsergänzung (BGH NJW 02, 2311 [BGH 17.04.2002 - VIII ZR 297/01]). Zu berücksichtigen sind die vertraglichen Bindungen (BGH NJW 10, 2649 [BGH 29.01.2010 - V ZR 132/09] Tz 10). Gesucht wird die durch den Vertrag im Ganzen, aber gerade nicht ausdrücklich getroffene Regelung (Ahrens Recht und Risiko, 181). Bei einem Gefälligkeitsverhältnis ist eine auf ergänzender Vertragsauslegung beruhende Haftungsbeschränkung bei einer Haftpflichtversicherung des Schädigers regelmäßig ausgeschlossen (BGH VersR 16, 1264).
Rn 29
Die Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens hat anhand der individuellen Umstände des konkreten Vertrags zu erfolgen. Auszugehen ist von der Regelung, welche die beteiligten Verkehrskreise bei sachgerechter Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte und der AGB-rechtlichen Schranken als redliche Vertragspartner getroffen hätten, wenn ihnen die Lücke bewusst gewesen wäre (BGHZ 90, 78; NJW 15, 1167 Tz 26; 16, 1718 Tz 70; Erman/Armbrüster § 157 Rz 20 f; nach aA besteht kein klares Rangverhältnis, Staud/Roth § 157 Rz 32; Medicus/Petersen AT Rz 344).
Rn 30
Für die Bestimmung des hypothetischen Parteiwillens gelten strenge Grenzen. Entspr dem Primat des Parteiwillens darf die ergänzende Vertragsauslegung nicht zu einer Abänderung oder einer unzulässigen Erweiterung des Vertrags führen (BGHZ 40, 103; BGH NJW 02, 2311). Die Ergänzung muss sich als zwingende selbstverständliche Folge aus dem ganzen Zusammenhang des Vereinbarten ergeben, sodass ohne sie das Ergebnis im offenen Widerspruch mit dem nach dem Inhalt des Vertrags Vereinbarten stehen würde (BGHZ 77, 304; GRUR 20, 57 Tz 37). Ergeben sich mehrere Auslegungsmöglichkeiten, scheidet eine ergänzende Vertragsauslegung aus, falls kein Anhaltspunkt besteht, welche Regelung die Parteien getroffen hätten (BGHZ 62, 89 f; 143, 121; BGH NJW 02, 2311; GRUR 20, 57 Tz 37). Einzelfälle: Statt Umlegung von Antennenkosten Umlegbarkeit von Breitbandkabelkosten (BGH NJW 07, 3060 Tz 27), Geldentschädigung statt Schönheitsreparatur bei Umbau nach Auszug des Mieters (BGHZ 151, 53, 57; BGH NJW 14, 1521 Rz 15), keine Mangelhaftigkeit der Mietsache bei auch vom Vermieter hinzunehmendem Baulärm (BGH NJW 20, 2884 [BGH 29.04.2020 - VIII ZR 31/18]), Anspruch des Bauunternehmers gegen den Bauträger auf Umsatzsteuernachzahlung (BGH NJW 19, 1145; auch in der Insolvenz des leistenden Unternehmers BGH NJW-RR 20, 1144 [BGH 16.07.2020 - VII ZR 204/18]), bei verzögertem Zuschlag im Vergabeverfahren sind Fristen und Vergütung anzupassen (BGH NJW 09, 2443 [BGH 11.05.2009 - VII ZR 11/08] Tz 44), Referenzzins und Anpassungsschwelle bei langfristigen Sparanlagen (BGH NJW 10, 1742 [BGH 13.04.2010 - XI ZR 197/09] Tz 21), verlängerte Verjährungsfrist (BGH NJW 10, 1956 [BGH 11.03.2010 - III ZR 178/09] Tz 13), keine Lücke bei veränderten Kalkulationsgrundlagen (BGH NJW 10, 519 [BGH 10.09.2009 - VII ZR 82/08] Tz 20). Eine unwirksame Preisanpassungsklausel in einem Energieversorgungsvertrag kann dahingehend geschlossen werden, dass der Kunde die Unwirksamkeit innerhalb von drei Jahren nach Zugang der Jahresabrechnung geltend machen muss (BGH NJW 12, 1865 [BGH 14.03.2012 - VIII ZR 113/11] Tz 19 ff; 14, 1877 Tz 23; 14, 3639 Tz 15, Fernwärme; 15, 1167 Tz 29).