I. Begriff.
Rn 15
Der unbestimmte Rechtsbegriff der guten Sitten ist in hohem Maß konkretisierungsbedürftig. Gebräuchlich ist die Formel, nach der ein Rechtsgeschäft sittenwidrig ist, wenn es gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt (Motive II, 727; BGHZ 10, 232; 141, 361; NJW 94, 187 f; 04, 2670; 14, 1098 Tz 23 und 14, 1380 Tz 8 zu § 826; NJW-RR 18, 906 Tz 24; Sack NJW 85, 761). Die Formel ist jedoch irreführend, weil weder auf das Gefühl noch auf einen indifferenten Personenkreis abzustellen ist (Medicus AT Rz 682; Schiemann Eckpfeiler des Zivilrechts, D 174). Dieser Rückgriff eröffnet zudem Missbrauchsmöglichkeiten, die im Dritten Reich zu einer Gleichstellung der guten Sitten mit dem herrschenden Volksempfinden und der nationalsozialistischen Weltanschauung geführt haben (RGZ 150, 4). Nach einer in der aktuellen Rspr verwendeten Formulierung ist ein Rechtsgeschäft sittenwidrig, wenn es nach seinem aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu entnehmenden Gesamtcharakter mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren ist (BGHZ 146, 298, 301; 205, 117 Tz 69; 210, 30 Tz 37; BGH NJW 18, 848, Tz 24; 18, 3637 Tz 10).
Rn 16
Anzulegen ist ein objektiver Maßstab (Erman/Schmidt-Räntsch § 138 Rz 12a; BaRoth/Wendtland Rz 16; § 826 Rn 5). Die Grundsätze allg Sittlichkeit und Moral sind dafür nicht geeignet (vgl Staud/Sack/Fischinger § 138 Rz 62 ff). Abzustellen ist auf die grundlegenden Wertvorstellungen, die sowohl auf rechtlichen als auch außerrechtlichen Prinzipien basieren können (Neuner § 46 Rz 13f). Im Konfliktfall besitzen die Wertentscheidungen der Rechtsordnung Vorrang (BaRoth/Wendtland Rz 18; Jauernig/Mansel § 138 Rz 7). Ergänzend sind die Anschauungen der in Betracht kommenden Verkehrskreise zu berücksichtigen (dies stärker betonend BGHZ 10, 228, 232), doch muss es sich um die im deutschen Rechtskreis üblichen Anschauungen handeln (aber LG Karlsruhe NJW-RR 07, 201 [LG Karlsruhe 15.08.2006 - 2 O 350/06]).
II. Wertungselemente.
1. Rechtliche Maßstäbe.
Rn 17
Wesentliche Bedeutung kommt der va in den Grundrechten niedergelegten Wertordnung des Grundgesetzes zu (BGHZ 106, 338; NJW 86, 2944; 99, 568). Hierzu gehören insb die Art 1 I, 2 (BGHZ 142, 314), 3 III, 4 I, 5, 6 (vgl BVerfG NJW 01, 958), 9, 12 (BGH NJW 86, 2944; 00, 1028), 14 I (BGH NJW 99, 568 [BGH 02.12.1998 - IV ZB 19/97]), 20 I sowie 28 I GG (BVerfG NJW 94, 36f [BVerfG 19.10.1993 - 1 BvR 567/89]). Zu berücksichtigen sein kann die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte.
Rn 18
Bei der Ausformung der guten Sitten besitzen auch der Menschenrechtskatalog der EMRK sowie die Grundfreiheiten des EGV ein gewisses Gewicht (BGHZ 142, 314). Einen deutlichen Niederschlag finden auch die in den Antidiskriminierungsrichtlinien der EU enthaltenen Wertungen.
Rn 19
Einfachgesetzliche Wertentscheidungen sind zu berücksichtigen, wenn sie einen Ausfluss gesetzlicher Leitideen bilden. Dabei muss es sich um wesentliche Grundsätze und grundlegende Maßstäbe der Rechtsordnung handeln (BGHZ 80, 158; 106, 338).
Rn 20
Mit dem Begriff des ordre public ist der Zuweisungsgehalt des § 138 nicht identisch. Der ordre public dient der Aufgabe, die inländische Rechtsordnung ggü der Souveränität ausländischer Staaten abzugrenzen (Neuner AT § 46 Rz 12).
2. Außerrechtliche Maßstäbe.
Rn 21
Ausgehend vom Vorrang rechtlicher Grundentscheidungen (Rn 17), ist sozialethischen Prinzipien eine gewisse Ergänzungsfunktion beizumessen. Ein allg Rückgriff auf die Sittenordnung ist damit nicht verbunden. Bereits der sich ausbreitende Wertepluralismus setzt dem enge Grenzen. So ist nur auf wenige fundamentale Prinzipien zurückzugreifen.
Rn 22
Als besonders sensibel erweist sich die Schnittstelle zur Sexualmoral. Bei der Verknüpfung rechtsgeschäftlicher Handlungen mit der Sexualsphäre liegt immer noch ein moralisches Unwerturteil nahe. Entscheidend wird sein, ob das Geschäft rechtlich zu missbilligen ist (zutr AnwK/Looschelders Rz 84). Nicht das sexuelle Verhalten, sondern zusätzliche Umstände müssen das Werturteil begründen (Soergel/Hefermehl Rz 206). Besonderes Gewicht besitzen die Menschenwürde (BVerwG NJW 96, 1424 [BVerwG 23.08.1995 - BVerwG 1 B 46/95]) sowie die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Zu berücksichtigen sind auch die im ProstG zum Ausdruck gekommenen Wertentscheidungen (BGH NJW 02, 361 [BGH 22.11.2001 - III ZR 5/01]).
Rn 23
Bei der Orientierung an sozialethischen Prinzipien wird ein durchschnittlicher Standard verlangt (BGHZ 10, 232), der dahingehend konkretisiert wird, dass weder besonders strenge noch gleichgültige Vorstellungen (AnwK/Looschelders Rz 38) oder individuelle Gerechtigkeitsüberzeugungen (BGH NJW 99, 568 [BGH 02.12.1998 - IV ZB 19/97]) zu berücksichtigen sind. Ergänzt werden muss dieses Rahmenmodell durch ein Verständnis, das dem dynamischen Faktor eines Vorstellungswandels Rechnung trägt.
III. Sittenverstoß.
1. Grundsatz.
Rn 24
Ein Rechtsgeschäft kann wegen seines Inhalts oder seines Gesamtcharakters, dh aufgrund einer zusammenfassenden Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck, sittenwidrig sein (BGHZ 125, 228). Ein Unte...