1. Grundsatz.
Rn 24
Ein Rechtsgeschäft kann wegen seines Inhalts oder seines Gesamtcharakters, dh aufgrund einer zusammenfassenden Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck, sittenwidrig sein (BGHZ 125, 228). Ein Unterlassen verletzt die guten Sitten nur dann, wenn das geforderte Tun einer sittlichen Pflicht entspricht (BGH 3.12.13, XI ZR 295/12 Rz 23).
2. Inhalt.
Rn 25
Widerspricht der objektive Inhalt eines Rechtsgeschäfts grundlegenden Wertvorstellungen, tritt die Sittenwidrigkeit ohne Rücksicht auf die Vorstellung der am Rechtsgeschäft beteiligten Personen ein (BGHZ 94, 272; BGH NJW 89, 26, Schmiergeldzahlung; BGH WM 12, 458 Tz 21, Förderung einer Straftat; BGH NJW 94, 188, Titelkauf; Missbrauch Vertretungsmacht, BGH NJW 08, 1225 [BGH 07.12.2007 - V ZR 65/07] Tz 19). Ein zu missbilligender Inhalt kann sich aus der Gestaltung, dem angestrebten Erfolg (Tötung eines anderen) oder den Konsequenzen des Rechtsgeschäfts ergeben (Erman/Schmidt-Räntsch § 138 Rz 17). Je nach Einzelfall kann sich die Sittenwidrigkeit bereits aus einem dieser Elemente oder aus einer Kombination mehrerer Elemente und deren Summenwirkung ergeben (BGH NJW 22, 3147 Rz 32). Bezwecken die Parteien, einen Dritten zu täuschen und einer Partei ihr nicht zugedachte Rechte zu verschaffen oder den Dritten an der Wahrnehmung seiner Rechte zu hindern, kann die Vereinbarung allein wegen dieses Zwecks sittenwidrig sein (BGH WM 12, 458 Tz 21). IRd ›Diesel-Skandals‹ über die eingesetzte Software zur Manipulation der Motorensteuerung hat die höchstrichterliche Rspr iRv § 826 eine objektive Sittenwidrigkeit angenommen (BGHZ 225, 316 Rz 63; NJW 21, 918 [BGH 17.12.2020 - VI ZR 739/20]).
Rn 26
Geschäfte, die eine höchstpersönliche Entscheidung einer rechtlichen Bindung unterwerfen, sind sittenwidrig. Nichtig ist daher eine Verpflichtung, nicht zu heiraten (BAG AP 1 zu Art 6 I GG Ehe und Familie). Auch im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts verstoßen Eheverbotsklauseln gegen fundamentale Prinzipien der Grundrechtsordnung und sind sittenwidrig (aA BAG NZA 85, 216). Unwirksam ist das Versprechen, die Konfession bzw Staatsangehörigkeit zu wechseln oder ein Zeugnisverweigerungsrecht auszuüben (Soergel/Hefermehl Rz 21). Zu dieser Fallgruppe wird auch das Versprechen der Empfängnisverhütung gerechnet (vgl BGHZ 97, 372, 379), wenn es sich überhaupt um eine rechtsgeschäftliche Erklärung handelt (Vor §§ 116 ff Rn 16). Die Fälle der von beiden Partnern nicht gewünschten Schwangerschaft können so jedoch nur unzureichend erklärt werden. Unwirksam ist vielmehr, die Verantwortung für die Familienplanung einseitig zu übertragen.
3. Gesamtwürdigung.
a) Summenwirkung.
Rn 27
Im Einzelfall kann ein sittenwidriges Element so stark ausgeprägt sein, dass es die Sittenwidrigkeit des Rechtsgeschäfts zu begründen vermag (MüKo/Armbrüster § 138 Rz 28; vgl BGH NJW 09, 835 Tz 9, sittenwidriger Einheitspreis). Typischerweise ist aber die Sittenwidrigkeit erst aus einem Zusammenwirken mehrerer Umstände zu begründen. Selbst wenn die einzelnen Umstände für sich allein noch nicht anstößig sind, können sie in ihrer summierten Wirkung das Gesamturteil der Sittenwidrigkeit begründen (BGHZ 51, 56). Dieses Zusammenspiel beweglicher Elemente (BGH WM12, 458 Tz 20), früher bildhaft als Sandhaufentheorem bezeichnet (Stuttg NJW 79, 2412), ist zwar für den enger formulierten Wuchertatbestand auf Ablehnung gestoßen (BGHZ 80, 159; s.a. Rn 51). Für die Generalklausel in § 138 I kann aber auf sie zurückgegriffen werden (Staud/Sack/Fischinger § 138 Rz 117; AnwK/Looschelders Rz 100).
b) Faktoren – Wucherähnliches Geschäft.
Rn 28
Ergibt sich die Sittenwidrigkeit nicht etwa schon aus dem Inhalt des Rechtsgeschäfts, ist auf eine Gesamtwürdigung von Inhalt, Motiv und Zweck sowie der äußeren Umstände bei der Vornahme abzustellen (BGHZ 107, 97; 125, 228; 141, 361; NJW 90, 704; 01, 1127; WM 12, 458 Tz 20; 3.12.13, XI ZR 295/12 Rz 23; BAG NZA 06, 1354 Tz 16; NJW 11, 630 Tz 30). Als wucherähnliches Geschäft soll ein Vertrag nach § 138 I nichtig sein, wenn zwischen Leistung und Gegenleistung objektiv ein auffälliges Missverhältnis besteht – auch bei einzelner Leistungsposition (BGH NJW 09, 835 [BGH 18.12.2008 - VII ZR 201/06] Tz 14) und von im Vertrag nicht vorgesehenen Leistungen (BGH NJW 13, 1950 [BGH 07.03.2013 - VII ZR 68/10] Rz 23) – und grds ein weiterer Umstand hinzukommt, der das Rechtsgeschäft bei Zusammenfassung der objektiven und subjektiven Merkmale als sittenwidrig erscheinen lässt (BGHZ 146, 298, 301; NJW 07, 2841 Tz 16; 12, 2099 Tz 13; 14, 1652 Tz 10; 22, 2614 Rz 23). Das ist insb der Fall, wenn eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten hervorgetreten ist, weil er etwa die wirtschaftlich schwächere Position des anderen bewusst zu seinem Vorteil ausgenutzt oder sich zumindest leichtfertig der Erkenntnis verschlossen hat, dass sich der andere nur unter dem Zwang der Verhältnisse auf den für ihn ungünstigen Vertrag eingelassen hat (BGHZ 146, 298, 301; 22, 2614 Rz 26). Bei einem besonders groben Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung ist ein Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung möglich (BGHZ...