1. Grundsatz.
Rn 57
Bei dem Bewucherten muss eine Schwächesituation, also alternativ eine Zwangslage, Unerfahrenheit, ein Mangel an Urteilsvermögen oder eine erhebliche Willensschwäche bestehen, die der Wucherer ausgebeutet hat. Die Beeinträchtigungen der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit sind für II abschließend aufgezählt. Bei vergleichbaren Schwächesituationen kommt eine Anwendung von § 138 I in Betracht (AnwK/Looschelders Rz 365).
2. Zwangslage.
Rn 58
Sie liegt vor, wenn durch eine erhebliche Bedrängnis für den Betroffenen ein dringendes Bedürfnis nach einer Geld- oder Sachleistung besteht (Erman/Schmidt-Räntsch § 138 Rz 50). Der Begriff der Zwangslage reicht weiter als der einer Notlage und setzt keine Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz voraus. Es genügt die Gefahr schwerer wirtschaftlicher Nachteile (BGH NJW 94, 1276 [BGH 10.02.1994 - VII ZR 20/93]; 22, 2614 [BGH 21.04.2022 - I ZR 214/20] Rz 23). Auch gesundheitliche Beeinträchtigungen, psychische Bedrängnis (BGH NJW 03, 1861, Furcht vor Abschiebung des ausländischen Partners) oder politische Erwägungen (vgl BGHZ 69, 299 f; NJW 80, 1575, Fluchthelfervertrag) können eine Zwangslage schaffen (Staud/Sack/Fischinger § 138 Rz 269). Es genügt ein Stromausfall am Wochenende (AG Langenfeld NJW-RR 99, 1345 [BGH 14.01.1999 - I ZR 149/96]). Die Situation eines Dritten, zB Angehörigen, kann eine Zwangslage des Bewucherten begründen (vgl BGH NJW 80, 1575 [BGH 21.02.1980 - III ZR 185/77]; 03, 1861 [BGH 19.02.2003 - XII ZR 142/00]).
Rn 59
Notwendig ist die Gefährdung von etwas Bestehendem. Es genügt nicht, wenn Zukunftspläne scheitern (BGH NJW 94, 1276 [BGH 10.02.1994 - VII ZR 20/93]). Auch eine bloß subjektiv empfundene Zwangslage ist nicht ausreichend (Soergel/Hefermehl Rz 78; MüKo/Armbrüster § 138 Rz 149; aA BaRoth/Wendtland Rz 51). Der Wucherer muss dem Bewucherten eine Leistung erbringen, auf die der bewucherte Geschäftspartner zur Behebung seiner Zwangslage angewiesen ist. An dieser Voraussetzung von § 138 II fehlt es, wenn die benachteiligte Person zwecks künftiger Heirat iRd Vermögensauseinandersetzung der noch bestehenden Ehe eine ungünstige Vereinbarung trifft (BGH NJW 03, 1861 [BGH 19.02.2003 - XII ZR 142/00]).
3. Unerfahrenheit.
Rn 60
Sie setzt einen allg Mangel an Lebens- oder Geschäftserfahrung voraus (BGH BB 66, 226; WM 82, 849). Die Erfahrung kann Jugendlichen sowie Heranwachsenden (BGH NJW 66, 1451 [BGH 25.03.1966 - VIII ZR 225/65]), Senioren (AnwK/Looschelders Rz 368) und geistig besonders einfach strukturierten Personen fehlen (RGZ 67, 393; 72, 68). Mangelnde Erfahrung auf einem bestimmten Lebens- oder Wirtschaftsgebiet (Rechtskenntnisse) sollen nicht genügen (Soergel/Hefermehl Rz 79; BaRoth/Wendtland Rz 52). Allerdings hat der BGH bei einem im August bzw Oktober 1991 geschlossenen Vertrag eines Bürgers aus den neuen Bundesländern eine offensichtliche Unerfahrenheit angenommen (BGH NJW 94, 1476). Ebenso soll auch bei Ausländern und Aussiedlern, die aus einem anderen Wirtschafts- oder Kulturkreis kommen, eine Unerfahrenheit vorliegen können (Staud/Sack/Fischinger § 138 Rz 279). Damit wird freilich eine sektorale Unerfahrenheit akzeptiert.
4. Mangelndes Urteilsvermögen.
Rn 61
Es liegt vor, wenn dem Betroffenen in erheblichem Maß die Fähigkeit fehlt, sich bei seinem rechtsgeschäftlichen Handeln von vernünftigen Beweggründen leiten zu lassen. Im Unterschied zu der erheblichen Willensschwäche, bei der der Betroffene die Tragweite des Rechtsgeschäfts durchschaut, sich aber wegen einer verminderten psychischen Widerstandsfähigkeit nicht sachgerecht verhalten kann, ist der von mangelndem Urteilsvermögen Betroffene nicht in der Lage, Inhalt und Folgen des Geschäfts richtig zu erkennen und einzuschätzen (BGH NJW 06, 3054 Rz 28). Dazu zählt die Unfähigkeit, die für und gegen ein konkretes Rechtsgeschäft sprechenden Gründe zu erkennen sowie die wechselseitigen Leistungen und die wirtschaftlichen Konsequenzen des Geschäfts zutr zu würdigen (BGH NJW 06, 3054 Tz 28; Erman/Schmidt-Räntsch § 138 Rz 53). Kein Fall von mangelndem Urteilsvermögen liegt demgegenüber vor, wenn die Vertragspartei nach ihren Fähigkeiten zwar in der Lage war, die Vor- und Nachteile des Rechtsgeschäfts sachgerecht zu bewerten, diese Fähigkeiten vor dem Vertragsabschluss aber nicht oder nur unzureichend eingesetzt hat (BGH NJW 06, 3054 Rz 28). Es kann auf Verstandesschwäche, geringem Bildungsgrad oder hohem Alter beruhen (BGH NJW 06, 3054 [BGH 23.06.2006 - V ZR 147/05] Tz 28). Das Urteilsvermögen kann insb bei schwierigen Geschäften fehlen. Abzustellen ist auf das konkrete Rechtsgeschäft (Grüneberg/Ellenberger § 138 Rz 72).
5. Erhebliche Willensschwäche.
Rn 62
Von ihr ist auszugehen, wenn der Betroffene die Vor- und Nachteile eines Rechtsgeschäfts zutr abzuwägen vermag, er sich aber aus Mangel an psychischer Widerstandsfähigkeit nicht entspr dieser Einsicht verhalten kann. Sie kann bei Jugendlichen sowie Heranwachsenden, Alkoholkranken, Drogen- und Spielsüchtigen vorliegen (Soergel/Hefermehl Rz 81).
6. Ausbeutung der Unterlegenheit.
Rn 63
Der Wucherer beutet die ungünstige Situation seines Geschäftspartners aus, wenn er sich desse...