Prof. Dr. Moritz Brinkmann
Gesetzestext
Haben sich die Parteien bei einem Vertrag, den sie als geschlossen ansehen, über einen Punkt, über den eine Vereinbarung getroffen werden sollte, in Wirklichkeit nicht geeinigt, so gilt das Vereinbarte, sofern anzunehmen ist, dass der Vertrag auch ohne eine Bestimmung über diesen Punkt geschlossen sein würde.
A. Allgemeines.
Rn 1
Wie § 154 regelt auch § 155 nur den Dissens über nicht wesentliche Vertragsbestandteile, sog accidentalia negotii (RGZ 93, 299). Fehlt es an einer Einigung über wesentliche Vertragspunkte, liegt ein ›logischer‹ oder ›totaler‹ Dissens vor, der das Zustandekommen eines Vertrags ausschließt (MüKo/Busche Rz 2). Für die Frage, ob sich die Parteien geeinigt haben, kommt es nicht auf den Wortlaut der Erklärungen, sondern auf ihren durch Auslegung nach §§ 133, 157 zu ermittelnden Inhalt an (›normativer Konsens‹). Daher setzt ein versteckter Dissens einerseits keinen abweichenden Wortlaut der Erklärungen voraus (BGH NJW-RR 93, 373 [BGH 20.11.1992 - V ZR 122/91]), umgekehrt liegt ein Konsens nicht nur bei wörtlich übereinstimmenden Erklärungen vor (Staud/Bork Rz 3, 5).
B. Abgrenzung.
Rn 2
Von der Irrtumsanfechtung unterscheidet sich der Dissens dadurch, dass bei der Anfechtung die Auslegung der Erklärungen einen übereinstimmenden Inhalt ergibt, der allerdings von dem durch eine der Parteien wirklich Gewollten abweicht.
Rn 3
Auch der Fall der falsa demonstratio (RGZ 99, 147) ist nicht von § 155 erfasst, da hier wegen der Übereinstimmung des inneren Willens kein Dissens vorliegt. Es gilt das von den Parteien tatsächlich Gewollte, auch wenn sie objektiv etwas anderes erklärt haben (BGH NJW 98, 746 [BGH 20.11.1997 - IX ZR 152/96]; BAG BB 11, 1725 [BAG 23.02.2011 - 4 AZR 536/09]; für formbedürftige Verträge BGH NJW 08, 1658 [BGH 18.01.2008 - V ZR 174/06]; Schlesw NJW-RR 11, 1233, 1234 [OLG Schleswig 29.03.2011 - 3 U 49/10]; für das Grundbuchverfahren München 34 Wx 76/08, OLGR München 08, 898). Hat eine Partei erkannt, dass die andere Partei mit ihrer Erklärung etwas anderes erklären wollte, als sie objektiv erklärt hat, so ist der Vertrag mit dem tatsächlich von dieser Partei gewollten Inhalt geschlossen, eine Anfechtung wegen Irrtums scheidet analog § 116 aus (BGH BB 83, 927; RGZ 66, 427).
Rn 4
Liegt eine Übereinstimmung der objektiven Erklärungsinhalte vor, irren sich aber beide Parteien über den Inhalt des objektiv Erklärten, ohne dass ein gemeinsamer subjektiver Wille feststellbar ist, so liegt eine Störung der subjektiven Geschäftsgrundlage vor (s § 313 Rn 41; Staud/Bork Rz 6). Auch dies ist wegen des normativen Konsenses kein Fall des § 155.
C. Verdeckte, planwidrige Unvollständigkeit.
Rn 5
§ 155 ist einschlägig, wenn beide Parteien glauben, sich über alle Fragen geeinigt zu haben, aber tatsächlich noch Punkte offen sind, über die eine Einigung erzielt werden sollte. Soweit es sich um Punkte handelt, welche nie zum Regelungsprogramm der Parteien gehörten, ist dies kein Fall des Dissenses. Es liegt vielmehr eine durch dispositives Recht oder ergänzende Vertragsauslegung zu füllende Vertragslücke vor. § 155 ist nur anwendbar, wenn die Parteien ursprünglich eine Regelung dieser Frage treffen wollten und sie dieses Vorhaben auch nicht im Laufe der Vertragsverhandlungen aufgegeben haben.
Rn 6
Sofern der versteckte Teildissens darauf beruht, dass die Parteien versucht haben, kollidierende AGB in den Vertrag einzubeziehen, ist eine Abgrenzung zu § 150 II erforderlich (s § 150 Rn 6 f). Man wird hier § 155 anwenden können, wenn den Parteien die Abweichung nicht bewusst war und sie dennoch den Vertrag durchgeführt haben.
D. Irrtümlich angenommener Konsens.
Rn 7
Der Irrglaube der Parteien, dass sie sich geeinigt haben, kann darauf beruhen, dass sich die Parteien bei der Wahrnehmung der Erklärung des Gegners verhört, verlesen oder die Erklärung schlicht missverstanden haben (Hamm NJW-RR 98, 1747 [OLG Hamm 08.09.1997 - 13 U 46/97]; München 7 U 4937/10; Erman/Armbrüster Rz 3). Der praktisch wichtigste Fall ist der, dass die Erklärungen der Parteien objektiv mehrdeutig sind und sie sie in einem unterschiedlichen Sinn gemeint haben, was ihnen aber verborgen geblieben ist (BGH NJW-RR 93, 373 [BGH 20.11.1992 - V ZR 122/91] [obiter]; NJW 03, 743 Dissens bei Bauvertrag; Köln NJW-RR 00, 1720 [OLG Köln 11.06.1999 - 6 U 148/98] fehlende Eindeutigkeit des Begriffs ›Best-of-Album‹; Hambg IPRax 81, 180 bei zweisprachigem Vertragstext; Köln WM 70, 892 Begriff ›Aktien‹ ist unklar, wenn es sowohl Vorzugs- als auch Stammaktien gibt). Bei mehrdeutigen AGB sind abw von § 155 die §§ 305c II, 306 I zu beachten.
E. Rechtsfolgen.
Rn 8
Grds ist bei Bestehen eines Dissenses, ob versteckt oder offen, der Vertrag nicht zustande gekommen (Staud/Bork Rz 13). Dieses Verständnis ergibt sich aus dem Konsensprinzip, auf dem die §§ 145 ff beruhen (Vor §§ 145 ff Rn 40), und wird durch die Regel des § 139 bestätigt.
Rn 9
Die Wirksamkeit des Vertrags trotz einer fehlenden Einigung ist insofern die Ausnahme. Sie kann nach § 155 nur bejaht werden, wenn angenommen werden kann, dass den Parteien eine Einigung über diesen Punkt nicht so wichtig war, dass sie den gesamten Vertrag...