Prof. Dr. Moritz Brinkmann
I. Funktion und Anwendungsbereich.
Rn 15
Zweck der ergänzenden Vertragsauslegung ist es, Lücken der rechtsgeschäftlichen Regelung zu schließen. Ein derartiges Vorgehen kommt daher nur in Betracht, wenn die zu klärende Frage nicht im Wege der eigentlichen Auslegung zu klären ist. Diese ist daher stets vorrangig (BGH NJW-RR 09, 593 [BGH 21.01.2009 - XII ZR 79/07]). Ob es sich bei der ergänzenden Auslegung überhaupt noch um Auslegung im Sinne einer an der privatautonomen Gestaltung des Rechtsverhältnisses orientierten Lösung handelt, ist insofern fraglich (hierfür Staud/Roth Rz 2). Nach aA soll es sich um heteronome Rechtsfortbildung handeln, die sich an den objektiven Maßstäben von Treu und Glauben und der Verkehrssitte zu orientieren habe (MüKo/Busche Rz 28). Dabei ist aber unstr, dass Leitgedanke auch der ergänzenden Auslegung der hypothetische Wille der Parteien sein muss (hierzu Rn 24, Rn 26).
Rn 16
Die ergänzende Auslegung kommt grds bei allen Willenserklärungen in Betracht, auch bei formbedürftigen (BGHZ 22, 364, 368 = NJW 57, 423; Karlsr JZ 82, 860). Gerade bei Testamenten hat die ergänzende Vertragsauslegung besondere Bedeutung (§ 2084 Rn 13). Für die ergänzende Vertragsauslegung gilt die Andeutungstheorie nicht.
Rn 17
Schließlich ist die ergänzende Vertragsauslegung in den Fällen des offenen (BGH NJW 75, 1116 [BGH 19.03.1975 - VIII ZR 262/73]) (§ 154) oder versteckten (§ 155) Dissenses fruchtbar zu machen, um Lücken in der vertraglichen Einigung der Parteien zu schließen (§ 155 Rn 9 ff).
Rn 18
Die Rspr nimmt im Wege ergänzender Auslegung stillschweigende Haftungsausschlüsse zuweilen selbst dann an, wenn ein endgültiger Vertragsschluss gescheitert ist (BGH NJW 80, 1682 [BGH 18.12.1979 - VI ZR 52/78]; Dresden NJW-RR 97, 1180 [OLG Dresden 27.06.1996 - 7 U 791/96] Haftungsausschluss bei Bergung eines LKW). Inwieweit es sich hier freilich noch um Vertragsauslegung und nicht um die Erweiterung gesetzlicher Haftungsbeschränkungen handelt, ist fraglich (Rn 41; Staud/Roth Rz 13). Dieselben Zweifel gelten auch bezüglich der Gewinnung des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter aus dem Gesichtspunkt der ergänzenden Vertragsauslegung (vgl BGHZ 159, 1, 4 = NJW 04, 3035 Kreditnehmer als Begünstigter eines von einem Dritten beauftragten Wertgutachtens; München VersR 12, 1524Rz 32 Einbeziehung des Versicherungsnehmers in den Schutzbereich eines vom Versicherer veranlassten Gutachtenauftrags zur Schadensfeststellung).
II. Vertrags-/Regelungslücke als Voraussetzung.
Rn 19
Voraussetzung der ergänzenden Vertragsauslegung ist eine planwidrige Lücke in der vertraglichen Regelung (BGH NJW 02, 670 [BGH 18.10.2001 - I ZR 91/99]; 11, 2977, 2978 [BGH 14.07.2011 - III ZB 70/10]; NJW-RR 08, 1371, 1372 [BGH 18.06.2008 - VIII ZR 154/06]; NJW 12, 844 [BGH 11.01.2012 - XII ZR 40/10]). Dabei genügen Vorstellungen nur einer Seite, die nicht Bestandteil der Regelung geworden sind, nicht. Es kommt auf eine Lücke im gemeinsamen Regelungsprogramm an. Ob diese schon anfänglich vorliegt oder erst nachträglich durch Änderungen der Rechts- oder Tatsachenlage entsteht, ist unbeachtlich (BGH NJW-RR 08, 562 [BGH 24.01.2008 - III ZR 79/07] Tz 14; NJW 05, 1421 [BGH 11.01.2005 - X ZR 163/02] zur Entstehung einer Gesetzeslücke in Folge der Schuldrechtsmodernisierung; NJW 07, 687 [BGH 05.12.2006 - VI ZR 45/05] nachträgl Umsatzsteuerpflicht des Factors wg Einführung des § 13c UStG; Fortfall eines in Bezug genommenen Preisindexes, BGH NJW-RR 09, 880 [BGH 04.03.2009 - XII ZR 141/07]; BAG ZTR 11, 564 [BAG 18.05.2011 - 5 AZR 213/09]; BGH NJW-RR 23, 901 [BGH 27.04.2023 - VII ZR 144/22] Lücke infolge pandemiebedingter Kontaktbeschränkungen).
Rn 20
An der Planwidrigkeit der Lücke fehlt es insb, wenn die Parteien bewusst eine abschließende Regelung der Frage getroffen haben. Die Erweiterung der rechtsgeschäftlichen Regelung im Wege ergänzender Vertragsauslegung scheidet dann aus (BGH NJW 85, 1835 [BGH 24.04.1985 - IVb ZR 17/84] zur Wirksamkeit des Verzichts auf nachehelichen Unterhalt). Auch ein bewusstes Offenlassen einer Frage kann, wenn nicht ohnehin ein Fall des § 154 vorliegt, eine planwidrige Lücke zur Folge haben, etwa wenn die Parteien eine Regelung nicht für erforderlich hielten oder sie glaubten, es werde später noch zu einer Einigung kommen (BGH NJW 75, 1116 [BGH 19.03.1975 - VIII ZR 262/73]).
Rn 21
Der Streit, ob von einer Lücke auch dann gesprochen werden kann, wenn dem dispositiven Recht eine Regelung zu entnehmen ist (so BGH NJW-RR 07, 687 Tz 25; BGHZ 204, 346; MüKo/Busche Rz 39; Staud/Roth Rz 22; NK-BGB/Looschelders Rz 20; anders aber BGHZ 40, 103; Grüneberg/Ellenberger Rz 4), hat nur terminologische Bedeutung. Denn selbst soweit dies bejaht wird, wird dem dispositiven Recht ein Vorrang zugesprochen, sodass die Füllung der ›Lücke‹ anhand des dispositiven Rechts erfolgt (BGH NZM 08, 462 [BGH 21.02.2008 - III ZR 200/07]; Grüneberg/Ellenberger Rz 4). Das dispositive Recht kommt nur dann nicht zur Anwendung, wenn es entweder seinerseits keine befriedigende Lösung enthält, beispielsweise weil es sich um einen atypischen Vertrag wie ...