Prof. Dr. Moritz Brinkmann
1. Dispositives Recht und hypothetischer Parteiwille.
Rn 24
Zum grds Vorrang des dispositiven Rechts bei der Lückenfüllung o Rn 21. Sofern sich aus diesem keine Antwort ergibt, ist auf das schwierige Konzept des hypothetischen Parteiwillens zurückzugreifen. Hiernach soll darauf abzustellen sein, welche Regelung die Parteien im Hinblick auf den mit dem Vertrag verfolgten Zweck bei sachgerechter Abwägung ihrer beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung der Verkehrssitte getroffen hätten (stRspr, vgl nur BGH NJW 12, 1348; BGHZ 164, 286 = ZIP 05, 2197; NJW-RR 90, 817; Schlesw MDR 11, 650). Der hypothetische Wille darf trotz dieser Formulierung nach hM freilich nicht mit dem gleichgesetzt werden, was die konkreten Parteien tatsächlich vereinbart hätten, wenn sie die Regelungsbedürftigkeit erkannt hätten (LAG Berl-Brandbg NZA-RR 11, 568 [LAG Berlin-Brandenburg 14.07.2011 - 26 Sa 534/11]; Staud/Roth Rz 31; MüKo/Busche Rz 48). Die ergänzende Vertragsauslegung ist vielmehr auf einen beidseitigen Interessenausgleich gerichtet, indem aus einer objektiv-generalisierenden Sicht dem hypothetischen Willen der Parteien Rechnung getragen wird (BGH NJW-RR 23, 901 [BGH 27.04.2023 - VII ZR 144/22] Tz 26). Denn der hypothetische Wille ist seinerseits objektiv durch die Konzepte von Treu und Glauben und der Verkehrssitte determiniert (BGH NJW 02, 2311 [BGH 17.04.2002 - VIII ZR 297/01]). Daher ist die Frage, welche Regelungsvorschläge eine der Parteien bei rechtzeitigem Erkennen der Lücke gemacht hätte, unbeachtlich, sodass hierüber kein Beweis erhoben werden muss (Saarbr BeckRS 20, 3141; Staud/Roth Rz 31).
Rn 25
Bei der ergänzen Auslegung ist demnach zunächst an den Vertrag selbst anzuknüpfen. Denn die darin enthaltenen Regelungen und Wertungen, die den Sinn und Zweck des Geschäfts erkennen lassen, sind Ausgangspunkt der Vertragsergänzung (BGH NJW-RR 12, 1223 [BGH 02.03.2012 - V ZR 159/11] [Erbbauzinsbemessung]). Die Ergänzung des Vertrages darf auch nicht zu einer Veränderung der vertraglichen Risikozuweisung führen (BAG NJW 07, 2348 [BAG 28.09.2006 - 8 AZR 568/05] Tz 23). Sie muss sich als zwingende, selbstverständliche Folge aus dem ganzen Zusammenhang des Vereinbarten ergeben, sodass ohne die vorgenommene Ergänzung das Ergebnis in offenbarem Widerspruch mit dem nach dem Inhalt des Vertrags tatsächlich Vereinbarten stünde (BGHZ 77, 301, 304 = NJW 80, 2347). Auf dieser Grundlage hält die Rspr auch die Ergänzung eines Vertrages durch ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht nach § 315 für möglich (BGH NJW-RR 08, 562 [BGH 24.01.2008 - III ZR 79/07]; NJW 10, 1956 [BGH 11.03.2010 - III ZR 178/09]).
Rn 26
Aus den hiernach bei der Ergänzung zu berücksichtigenden subjektiv/individuellen wie objektiven Komponenten ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das nicht schematisch, sondern immer nur für den konkreten Einzelfall aufgelöst werden kann. Allerdings besteht bei Austauschverträgen eine Vermutung dahingehend, dass Leistung und Gegenleistung in einem angemessenen Verhältnis stehen (BGH NJW 15, 1167 [BGH 03.12.2014 - VIII ZR 370/13]; BGH NJW 02, 2311 [BGH 17.04.2002 - VIII ZR 297/01] zur ergänzenden Vertragsauslegung eines Gaslieferungsvertrags als Dauerschuldverhältnis). Bei unerwarteten Vor- oder Nachteilen wird daher oft eine Halbteilung die angemessene Lösung sein (BGH NJW-RR 00, 894 [BGH 18.02.2000 - V ZR 334/98]).
Rn 27
Das Primat der Parteiautonomie gebietet es, dass die Feststellung des hypothetischen Parteiwillens nicht ex-post erfolgen darf, sondern aus der (mutmaßlichen) ex-ante Sicht erfolgen muss (BGH NJW-RR 05, 687; BGHZ 123, 281, 286 = NJW 93, 3194 (Buchwertklausel); GRUR 05, 320; Staud/Roth Rz 34; MüKo/Busche Rz 50; NK-BGB/Looschelders Rz 24; Grüneberg/Ellenberger Rz 7, diff Soergel/Riesenhuber Rz 27). Daher kommt es auf nachträglich entstandene Verkehrssitten nicht an. Neues dispositives Recht ist aber wegen seines grds Geltungsvorrangs zu berücksichtigen.
2. Anfechtung der Vertragsergänzung.
Rn 28
Nach hL ist die Anfechtung des ergänzten Vertrages gerade im Hinblick auf die Ergänzung durch eine Seite nicht zulässig (Soergel/Riesenhuber Rz 33; Flume II § 16 4c; aA Staud/Roth Rz 35; Erman/Armbrüster Rz 20; NK-BGB/Looschelders Rz 13). In den Fällen, in denen die Lücke der privatautonomen Regelung durch dispositives Recht gefüllt wird, handelt es sich nach hM um einen unbeachtlichen Rechtsfolgenirrtum (§ 119 Rn 28). Regelmäßig wird es in diesen Fällen ohnehin schon tatbestandlich am Vorliegen eines Irrtums fehlen. Denn für dessen Feststellung reicht die nachträgliche Unzufriedenheit einer Seite mit dem durch Auslegung ermittelten Vertragsinhalt nicht aus, da hierin keine fehlerhafte Willensbildung liegt, wie sie die Anfechtung insoweit voraussetzt (§ 119 Rn 23). Greifen diese Gesichtspunkte nicht ein, so sind allerdings keine Gründe ersichtlich, die Anfechtung nicht zuzulassen.