Rn 9a
Der BGH hat in einer Vielzahl von Entscheidungen zur Ehevertragsfreiheit seit 2004 die Struktur in Form der Trias objektive Seite, subjektive Seite, Bestandskontrolle, Ausübungskontrolle beibehalten.
Rn 9b
Zur objektiven Seite geht der BGH vom hohen Rang der Scheidungsfolgen, die dem Kernbereich unterfallen aus, weist aber darauf hin, dass das Verdikt der Sittenwidrigkeit – wie auch bei anderen Scheidungsfolgen aus dem Kernbereich – nur in Betracht kommt, wenn diese Scheidungsfolge ganz oder zu erheblichen Teilen ohne gewichtige Belange abbedungen wird.
Rn 9c
Besonderes Gewicht legt der BGH auf die subjektive Seite der Sittenwidrigkeit. Er betont, dass sich bei familienrechtlichen Verträgen keine tatsächliche Vermutung für das Vorliegen eines Defizits auf der subjektiven Seite aufstellen lässt, wenn sie sich lediglich auf die Einseitigkeit der Lastenverteilung gründet. Subjektive Defizite sind iE darzulegen. Dies gilt etwa für strukturelle Unterlegenheit, einseitige Einflussnahme auf die Vereinbarung, konkrete Gestaltung des Beurkundungsverfahrens, einschließlich Belehrung durch den Notar, wirtschaftliche Abhängigkeit vom anderen Ehegatten (zu Einzelheiten Born FF 21, 149; 21, 180; Bergschneider FamRZ 20, 1351).
Rn 9d
Hält die Prüfung der objektiven und der subjektiven Bestandskontrolle stand, folgt die Ausübungskontrolle. Hierfür kommen zwei unterschiedliche Rechtsgrundlagen in Betracht: Einmal die Bestimmung des § 242, also ob und inwieweit es einem Ehegatten nach Treu und Glauben unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs verwehrt ist, sich auf eine ihn begünstigende Regelung zu berufen. Zum anderen § 313, ob und soweit die tatsächliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, im Ehevertrag zugrunde gelegten Lebensplanung abweicht. Mit beachtlicher Begründung wird zunehmend eine Zurückdrängung der Wirksamkeitskontrolle gefordert (Hahne FS Koch [19], 357; Münch FS Koch [19], 389). Allein über die flexible Ausübungskontrolle seien angemessene und passgenaue Lösungen zu erzielen. Berechtigte Unternehmerinteressen würden verletzt, wenn ein Vertrag wider Erwarten als komplett nichtig eingestuft werde. Die Vollanwendung des Scheidungsfolgenrechts führe dann ggf zu einer Überkompensation ehebedingter Nachteile, die nach dem tatsächlichen Verlauf der Ehe oft nicht angemessen sei. Außerdem sei die tatsächliche Entwicklung der ehelichen Lebensverhältnisse und der ehelichen Rollenverteilung bei Vertragsschluss oftmals gar nicht hinreichend absehbar.
Rn 9e
Die Rspr des BGH zu Eheverträgen gilt auch für Scheidungsfolgevereinbarungen.
Rn 9f
Hinsichtlich der Anwendbarkeit der salvatorischen Klausel differenziert der BGH (FamRZ 20, 1347). Entscheidend ist die Frage, ob ein Ehevertrag auch ohne einzelne sittenwidrige Vertragsbestandteile geschlossen worden wäre. Wenn ja, muss eine salvatorische Klausel nicht von vornherein unbeachtlich sein. Wenn nein, ergibt sich das Verdikt der Sittenwidrigkeit aus der Gesamtwürdigung, dann ist der gesamte Vertrag nicht, ohne dass die Erhaltungsklausel hieran etwas verändern mag. Salvatorische Klauseln jedenfalls pauschaler Art schützen deshalb meist nicht gegen einen gesamtnichtigen Ehevertrag.
Rn 9g
Die rkr Beurteilung eines Ehevertrages als sittenwidrig kann zwar nicht durchbrochen werden, aber durch geänderte Umstände kann eine Neubewertung notwendig werden (BGH NJW 21, 1752 [BGH 17.03.2021 - XII ZB 221/19]). Grds dürfen iRd Abänderung nach § 238 FamFG die Umstände, die bereits Gegenstand der vorangegangenen Unterhaltsentscheidung waren, nicht mehr abweichend beurteilt werden. Ist der Ehevertrag einmal als sittenwidrig eingestuft worden, kann dies wegen der Rechtskraft der Entscheidung nicht mehr korrigiert werden.
Zusammenfassung:
Rn 9h
Der BGH (FamRZ 20, 1347) hat seine Rspr zur richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen grds beibehalten und konkretisiert.
Rn 9i
Es verbleibt bei dem nach zwischenzeitlich gefestigter Rspr des BGH (NJW 20, 3243 [BGH 27.05.2020 - XII ZB 447/19]; NZFam 20, 772) bestehenden Prüfungsdreiklang:
- objektive Seite: Eingriff in den Kernbereich der Scheidungsfolgen
- subjektive Seite: einseitige Lastenverteilung ohne Kompensation
- Wirksamkeitskontrolle/Ausübungskontrolle.
Rn 9j
Zur objektiven Seite geht der BGH vom hohen Rang des Versorgungsausgleichs iRd Kernbereichs des Scheidungsfolgenrechts aus, weist aber auch darauf hin, dass das Verdikt der Sittenwidrigkeit nur in Betracht kommt, wenn er ganz oder zu erheblichen Teilen ohne gewichtige Belange abbedungen wird.
Rn 9k
Auf der objektiven Seite der Prüfung der Sittenwidrigkeit kommt es maßgeblich auf folgende Umstände an:
- eine evident einseitige
- durch individuelle Gestaltung der Lebensverhältnisse
- nicht gerechtfertigte Lastenverteilung
- unzumutbare Belastung des einen Ehegatten
- auch bei angemessener Berücksichtigung der Belange des anderen Ehegatten
- und dessen Vertrauen in den Bestand des Vertrages.
Rn 9l
Auf der subjektiven Seite sind folgende Kriterien maßgeblich: