I. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Rn 27
Liegen die Voraussetzungen für einen Eingriff in die Personen- oder Vermögenssorge gem I vor, so hat das FamG die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu treffen. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt zu beachten (BVerfG FamRZ 12, 1127, 1128; 14, 1177; 1266; 1270; 15, 208; BGH FamRZ 16, 1752, 1753; 17, 212, 214; 19, 598; Schlesw FamRZ 19, 453). Dieser gebietet es, dass sich Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs nach dem Grad des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist. Der Staat muss daher nach Möglichkeiten suchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen (BVerfG FamRZ 68, 578, 584; 89, 145, 146). Zu beachten ist auch das Verhältnis zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseinritts für das Kind, weshalb die – auch teilweise – Entziehung der elterlichen Sorge nur bei ziemlicher Sicherheit des Schadenseintritts verhältnismäßig ist (BGH FamRZ 17, 212, 214; 19, 598). Eine besondere Ausprägung hat der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in § 1666a I und II für die stärksten Eingriffe in das Elternrecht gefunden.
Rn 28
Aus den Erfordernissen der Verhältnismäßigkeit und der Geeignetheit folgt das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs. Deshalb darf ein schwerer Eingriff in die elterliche Sorge erst erfolgen, wenn mildere Maßnahmen keinen Erfolg versprechen. Eine Maßnahme gem § 1666 muss von vornherein ausscheiden, wenn die Gefahr, die von ihr für das Kindeswohl ausgeht, größer ist als der Schaden, der abgewendet werden soll (BayObLG FamRZ 98, 1044, 1045; Hamm FamRZ 11, 1603). Ein vorläufiger Entzug der elterlichen Sorge kann nur in ganz besonderen Ausnahmefällen erfolgen (Köln FamRZ 07, 1682: Gewalt zwischen Eltern und Verweigerung der Mitwirkung an Klärung der Sachlage). Zu Weisungen zum Schutz vor pädophilem Lebensgefährten der Mutter vgl Karlsr FamRZ 18, 511; 19, 1429; Frankf FamRZ 19, 1425.
Rn 29
Maßnahmen mit endg Charakter dürfen nur ausnahmsweise angeordnet werden (BayObLG NJW-RR 90, 70, 71; Oldbg FamRZ 81, 811, 813). Grds dürfen Sorgerechtsmaßnahmen nur so lange aufrechterhalten bleiben, wie dies erforderlich ist (Brandbg FamRZ 14, 399). Jedoch ist eine zeitliche Begrenzung gerichtlicher Maßnahmen idR nicht möglich, weil nur in Ausnahmefällen abzusehen ist, wie lange die Gefährdung dauert (Karlsr FamRZ 05, 1272). Stattdessen sieht § 1696 III bei länger andauernden Maßnahmen eine regelmäßige Überprüfung in angemessenen Zeitabschnitten vor.
Rn 30
Die elterliche Sorge umfasst gem § 1626 I 2 sowohl die Personensorge als auch die Vermögenssorge. Die Entziehung der elterlichen Sorge insgesamt sieht das G nicht vor. Dies kann praktisch nur durch Entziehung sämtlicher Teilbereiche erreicht werden, sofern die Voraussetzungen hierfür vorliegen (BayObLG FamRZ 99, 179, 181; Kobl FamRZ 07, 1680).
II. Maßnahmen bei Gefährdung der Personensorge.
1. Abstufung.
Rn 31
Als mildeste Maßnahmen kommen Ermahnungen, Auflagen, Gebote und Verbote in Betracht. So können die Eltern insb angewiesen werden öffentliche Hilfe nach dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) anzunehmen (Kobl FamRZ 12, 1955; vgl Staud/Coester § 1666 Rz 219 f; Bremen FamRZ 10, 821). Solche Jugendhilfemaßnahmen kann das Gericht auch mit Bindungswirkung für das Jugendamt anordnen (Frankf FamRZ 94, 392; DAVorm 93, 943; a; aA MüKo/Lugani § 1666 Rz 180 ff; J/H/A/Jockisch § 1666a Rz 17). In der gerichtlichen Praxis wird davon aber eher selten Gebrauch gemacht, weil dies voraussetzt, dass die Eltern bereit und in der Lage sind mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten. Ist dies der Fall, wird sich ein Verfahren gem § 1666 aber meist erübrigen. IdR ist es erforderlich den Eltern einen Teil oder sogar die gesamte Personensorge zu entziehen. Als mildere Maßnahmen kann es aber auch ausreichend sein gem III Erklärungen des Sorgerechtsinhabers zu ersetzen oder den Sorgerechtsinhabern zu gebieten, Jugendhilfeleistungen außerhalb der Familie (zB Heimerziehung) anzunehmen und nicht zu beeinträchtigen (Nürnbg FamRZ 15, 1211). Auch eine Vollmachtserteilung an das Jugendamt kann den Sorgerechtsentzug entbehrlich machen (Oldbg FamRZ 21, 524). Eine Trennung des Kindes von dem sorgeberechtigten Elternteil darf nur dann erfolgen, wenn das Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind in seinem körperlichen, geistigen und seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist und dieser Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann (BVerfG FamRZ 82, 567; 09, 1897; 12, 433; 938; 14, 1266; 1270 mAnm Stößer; 1772, 1773; 15, 208; 16, 22; 21, 104; 21, 753; BGH FamRZ 16, 1752, 1754; 17, 212, 214 mAnm Rake FamRZ 17, 286; Saarbr FamRZ 08, 711; Hamm FamRZ 12, 462, 463; vgl auch Brandbg FamRZ 09, 994; Kobl FamRZ 12, 1953: Entzug Aufenthaltsbestimmungsrecht nur für Schultage). In § 1666a ist dieser Grundsatz eigens gesetzlich normiert. Ein Elternteil kann aber...