I. S 1: Gegenseitiges Einvernehmen bei Entscheidungen von erheblicher Bedeutung.
1. Entscheidungen von erheblicher Bedeutung.
Rn 3
I 1 stellt klar, dass für Entscheidungen in Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind weiterhin das gegenseitige Einvernehmen der Eltern erforderlich ist (vgl § 1627). Eine definitive Beschreibung, welche Angelegenheiten das sind, ist nicht möglich (Grüneberg/Götz § 1687 Rz 4). Im Umkehrschluss folgt aber aus I 2 und 3, dass es keine Angelegenheiten des täglichen Lebens sind, die idR häufig vorkommen und keine schwer abzuändernden Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben. Dabei stehen Angelegenheiten gem 1 und 2 in einem ›Entweder-Oder-Verhältnis‹, das keine Zwischenbereiche zulässt (Schwab FamRZ 98, 457, 468). Angelegenheiten gem I 1 sind bspw Grundsatzentscheidungen auf den Gebieten der tatsächlichen Betreuung, der Bestimmung des Aufenthalts, der schulischen und religiösen Erziehung, der beruflichen Ausbildung oder der medizinischen Versorgung des Kindes (BTDrs 13/4899, 107). Dieser nicht abschließenden Aufzählung sind insb noch die Angelegenheiten des Umgangs, der Status- und Namensfragen sowie der Vermögenssorge einschl der Geltendmachung von Unterhalt hinzuzufügen, sofern grds Fragen betroffen sind (s.u. Rn 7).
2. Einvernehmen.
Rn 4
Das Einvernehmen der Eltern kann für den konkreten Einzelfall, aber auch vorweg für ein bestimmtes Bündel von Angelegenheiten erklärt werden. Im letzteren Fall sind aber Entscheidungen auf Grund sich neu ergebender Umstände nicht mehr vom ursprünglichen Einvernehmen gedeckt. Das Einvernehmen kann auch stillschweigend erteilt werden. Im Umfang des Einvernehmens erhält ein Elternteil auch die Ermächtigung zur Alleinentscheidung einschl der alleinigen Vertretungsmacht (§ 1629 I 3), sofern dies im Hinblick auf die zu regelnde Angelegenheit notwendig ist. Wenn kein Einvernehmen hergestellt werden kann, ist nach hM gem § 1628 zu verfahren (s aber § 1628 Rn 2). Demnach kann jeder Elternteil das FamG anrufen, das dann einem die Entscheidungsbefugnis überträgt. Daneben kann ein Elternteil die fehlende Übereinstimmung zum Anlass nehmen gem § 1671 II Nr 2 einen Antrag auf Übertragung der Alleinsorge für den betr Teilbereich zu stellen.
II. S 2 und 3: Alleinentscheidungsbefugnis in Alltagsangelegenheiten.
1. Gewöhnlicher Aufenthalt.
Rn 5
Alleinentscheidungsbefugt nach I 2 kann nur der Elternteil sein, bei dem sich das Kind mit Einwilligung des anderen Elternteils oder auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung gewöhnlich aufhält. Dem G liegt der Regelfall des Residenzmodells zu Grunde, bei dem das Kind überwiegend bei dem betreuenden Elternteil lebt und zu dem anderen Elternteil Umgangskontakte mit mehr oder weniger langen Aufenthalten unterhält. Beim ›Wechsel-‹ oder ›Pendelmodell‹, bei dem das Kind mal beim einen, mal beim anderen Elternteil seinen Lebensmittelpunkt und damit seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wechselt mit diesem auch die Befugnis zur Entscheidung in Alltagsangelegenheiten (Staud/Salgo § 1687 Rz 15).
2. Entscheidungen des täglichen Lebens.
Rn 6
Was Entscheidungen in Angelegenheiten des täglichen Lebens sind, versucht I 3 näher zu beschreiben. Demnach weisen diese regelmäßig zwei Merkmale auf: die Entscheidungen müssen häufig vorkommen und keine schwer abzuändernden Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben. Dabei ist das Merkmal der Häufigkeit nicht ganz unproblematisch, weil der Gesetzgeber sicherlich auch einmalige oder seltene Entscheidungen von untergeordneter Bedeutung erfassen wollte. Andererseits können gerade alltägliche häufig vorkommende Entscheidungen die Entwicklung des Kindes ganz entscheidend prägen; dazu zählen etwa die Fragen, wann das Kind ins Bett gehen oder abends nach Hause kommen soll oder in welchem Umfang es fernsehen darf.
Rn 7
Bsp für das Vorliegen (ja) oder Nichtvorliegen (nein) von Angelegenheiten des täglichen Lebens iSd I 2 (vgl Schwab FamRZ 98, 457, 469; Staud/Salgo § 1687 Rz 36 ff; KG FamRZ 11, 1659): Schule/Ausbildung: nein: Wahl der Schulart und der Schule/Ausbildungsstätte (vgl München FamRZ 99, 111: Schulwechsel keine Alltagsfrage; ebenso Dresd FamRZ 03, 1489; Rostock FamRZ 07, 1835: Besuch weiterführender Schule; 20, 102; Naumbg FamRZ 11, 308: auch wenn umzugsbedingt; Schlesw FamRZ 11, 1304), der Fächer und Fachrichtungen, Besprechung mit Lehrern wegen gefährdeter Versetzung, Entscheidung über Internatserziehung, Wahl der Lehre und der Lehrstelle; Kindergartenwahl (Frankf FamRZ 09, 894); begleitetes Fahren (AG Hannover 14, 856); Teilnahme an Notbetreuung während Coronakrise (AG Aachen FamRZ 20, 1177); ja: Entschuldigung im Krankheitsfall, Teilnahme an Sonderveranstaltungen, Notwendigkeit von Nachhilfe (Naumbg FamRZ 06, 1058), unbedeutendere Wahlmöglichkeiten iRd gewählten Ausbildungsgangs (zB Wahlfächer, Schulchor; ebenso Staud/Salgo § 1687 Rz 43), Auswahl der Begleitperson zu Schule, Kindergarten, Hort (Bremen FamRZ 09, 355), An-/Abmelden in Kindertageseinrichtung (VG Köln FamRZ 14, 55). Gesundheit: nein: Grdl Entscheidungen der Gesundheitsvorsorge, Operationen und andere medizinische Behandlungen mit erheblichen Risiken (vgl Bambg FamRZ 03, 1403, das zu Recht die Frage der Behandlung eines hyperkinetischen Syndroms wegen der uU hervorgerufenen Nebenwir...