Prof. Dr. Martin Avenarius
I. Testamente.
Rn 1
Ein Abkömmling des Erblassers ist im Zweifel (vgl Ddorf ErbR 21, 423) als Repräsentant seines Stammes begünstigt (München ZErb 17, 199). § 2069 greift bei Wegfall eines (auch des einzigen, BayObLGZ 71, 386) Abkömmlings (§ 1589), nicht nur durch Tod (Ddorf ZEV 15, 549), sondern auch aus rechtlichen Gründen nach Errichtung der Verfügung (bei Tod vor Errichtung: § 2068) zB durch Ausschlagung (RGZ 95, 97, vgl aber Rn 5), Erbunwürdigkeit (Frankf ZEV 95, 457) oder bei auflösender Bedingung, wenn die Bedingung ein Ereignis in der Person des Bedachten und vor Anfall der Zuwendung eingetreten ist (Staud/Otte § 2069 Rz 17), nicht jedoch bei Erbverzicht gegen Abfindung, weil der Stamm des Verzichtenden sonst sachwidrig begünstigt würde (BGH NJW 74, 43 [BGH 24.10.1973 - IV ZR 3/72]; Braunschw NJW-RR 20, 1082 [OLG Braunschweig 13.05.2020 - 3 W 74/20]). Zu den Abkömmlingen gehören auch außereheliche Kinder (BayObLG NJOZ 04, 3827) iSd § 1592 Nr 2 und 3 sowie Adoptivkinder (BayObLG FamRZ 85, 426; bei Volljährigenadoption nur gem § 1772), nicht aber Pflege- oder Stiefkinder (vgl aber München NJW-RR 17, 907 [OLG München 24.04.2017 - 31 Wx 128/17]). § 2069 hilft, wenn sich im Wege der Auslegung nicht ermitteln lässt, wie der Erblasser beim Tod eines bedachten Abkömmlings verfahren wollte. Die Norm gibt keinen Erfahrungssatz wieder, der bereits in die Auslegung der individuellen Verfügungen ausstrahlen würde (München NJW-RR 21, 1593; Frankf ZEV 22, 274 m Anm Keim). Sie legt vielmehr einen typischen hypothetischen Willen zugrunde (Brandbg FamRZ 23, 1664).
II. Ehegattentestamente, Erbverträge.
Rn 2
Bei einem gemeinschaftlichen Testament/Ehegattenerbvertrag in der Variante des Berliner Testaments kann § 2069 analog auf allein mit dem zuerst verstorbenen Ehegatten verwandte Schlusserben/Vermächtnisnehmer angewendet werden (BayObLG FamRZ 91, 234; Frankf FamRZ 99, 772). Haben die Ehegatten einen Abkömmling des zuerst Verstorbenen für den zweiten Erbfall bedacht, so treten bei dessen Wegfall seine Abkömmlinge an dessen Stelle (München DNotZ 06, 68 [OLG München 20.07.2005 - 31 Wx 018/05]). § 2069 ist auch dann analog anwendbar, wenn es sich bei der bedachten und weggefallenen Person um eine dem Erblasser nahestehende Person handelt, die nicht Abkömmling ist, etwa Ehegatten oder Lebensgefährten (vgl BayObLG FamRZ 01, 516; aA Ddorf ErbR 12, 316; auf ergänzende Auslegung verweist AG Bamberg ErbR 22, 836), nicht aber Geschwister (BayObLG FamRZ 04, 569).
Rn 3
Bei einer wechselbezüglichen Schlusserbeneinsetzung in einem gemeinschaftlichen Testament gilt § 2069 insoweit nicht, als eine Bindung des überlebenden Ehepartners nach § 2270 II zugunsten der Abkömmlinge des weggefallenen Abkömmlings ausgeschlossen ist; beide Auslegungsregeln können also nicht kumuliert werden (BGH NJW 02, 1126; Schlesw ZErb 10, 264; aA Leipold JZ 2002, 895, 896).
III. Verhältnis zu § 2108 II 1.
Rn 4
Stirbt ein als Nacherbe eingesetzter Abkömmling nach dem Erblasser und vor Eintritt des Nacherbfalls, so verdrängt § 2108 II 1 die Auslegungsregel des § 2069 (BGH NJW 63, 1150 [BGH 23.01.1963 - V ZR 82/61]). Verlangt der ausschlagende Erbe seinen Pflichtteil, so kann § 2069 nicht angewendet werden, weil sonst der Stamm des Ausschlagenden ungerechtfertigt begünstigt würde (BGH NJW 60, 1899; BayObLG NJW-RR 00, 1361; aA MüKo/Leipold § 2069 Rz 13: Verhinderung der Doppelbelastung durch § 2320), indem dieser Stamm über seinen dem Ersatzerben zufallenden Erbteil hinaus noch einen Pflichtteilsanspruch erhielte.