Prof. Dr. Martin Avenarius
1. Einseitige Verfügungen.
Rn 5
Bei einseitigen Verfügungen als nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen ist als Auslegungsmaßstab allein der Verständnishorizont des Erblassers zum Errichtungszeitpunkt (Schlesw ZEV 13, 501) maßgeblich (§ 133). Keine Bedeutung hat der Horizont des von der Verfügung Betroffenen. Der Wortlaut bildet keine Auslegungsgrenze (BGH NJW 83, 672; FamRZ 02, 26). So ist etwa bei scheinbar eindeutigen Formulierungen eine atypische Ausdrucksweise des Erblassers oder ein am Wohnort des Erblassers üblicher Sprachgebrauch zu berücksichtigen (zB Bezeichnung der Ehefrau als ›Mutter‹). Es kommt nicht darauf an, wie die Verfügung von einem Dritten zu verstehen ist, sondern allein darauf, was der Erblasser ausdrücken wollte (BGH NJW 81, 1736, FamRZ 87, 475). Das gilt insb bei der Verwendung von juristischen Fachausdrücken durch Laien (Jena 31.7.18 – 6 W 14/16); so kann der Ausdruck ›vermachen‹ durchaus eine Erbeinsetzung bedeuten, eine ›Nacherbeneinsetzung nach dem Tode des länger lebenden Ehegatten‹ eine Schlusserbeneinsetzung (Hamm FamRZ 96, 312), die Zuwendung des ›Nießbrauchs am Nachlass‹ eine nicht befreite Vorerbschaft (BayObLG FamRZ 81, 403). Außerdem ist auf den Zweck der Anordnung zu sehen (Karlsr ZEV 04, 26 [OLG Karlsruhe 24.09.2003 - 9 U 59/03]; BGH ZEV 05, 117 [BGH 08.12.2004 - IV ZR 223/03]: Unwirksamkeit einer Pflichtteilsstrafklausel im Behindertentestament, wenn der Sozialhilfeträger den Pflichtteil verlangt). Nimmt der Erblasser Bezug auf Einrichtungen, die dem deutschen Recht fremd sind, so muss die Auslegung das entsprechende ausländische Recht sinngemäß berücksichtigen (Schlesw ZEV 14, 570).
Rn 6
Eine wichtige Auslegungshilfe ist der Textzusammenhang der letztwilligen Verfügung. So kann die Zusammenschau verschiedener Anordnungen des Erblassers als einheitlicher Regelungsplan des Erblassers oder die Mitteilung von Motiven für eine Anordnung Rückschlüsse auf deren Inhalt zulassen.
Rn 7
Lediglich bei einer von einem Notar beurkundeten Verfügung ist zu vermuten, dass der Notar den Erblasserwillen in eindeutiger und normkonformer Sprache niedergelegt hat (BayObLG FamRZ 96, 1037), es sei denn, es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Notar die Gestaltungsziele des Erblassers nicht zutr verstanden hat (Hamm FamRZ 94, 188).
Rn 8
Eine Ausnahme gilt bei Verfügungen, die sich insofern an den Begünstigten richten, als sie ihn zu einem bestimmten Verhalten veranlassen wollen, also insb bei Bedingungen oder Auflagen. Hier kommt es auf den Horizont des Betroffenen an, weil dieser nach dem Willen des Erblassers die Anordnung gerade auf bestimmte Weise verstehen soll (Staud/Otte vor § 2064 Rz 24).
2. Wechselbezügliche oder vertragsmäßige Verfügungen.
Rn 9
Bei vertragsmäßigen Verfügungen ist Auslegungsmaßstab zwar zunächst ebenfalls der Verständnishorizont des Erblassers (§ 133). Der hiernach ermittelte Erblasserwille kann jedoch nur insoweit berücksichtigt werden, als dieser aus der Sicht des Ehe- oder Vertragspartners (§ 157) bei Anwendung der verkehrsüblichen Sorgfalt erkennbar war (BGH NJW 84, 781), denn dem Vertragsschluss liegen empfangsbedürftige Willenserklärungen zugrunde. Haben die Beteiligten übereinstimmend etwas anderes unter einem beurkundeten Ausdruck verstanden, so ist das Gewollte, nicht das Beurkundete maßgebend (falsa demonstratio).
Rn 10
Wechselbezügliche Verfügungen sind hingegen keine empfangsbedürftigen Willenserklärungen. Sie sind aufeinander bezogene, parallel laufende Erklärungen. Zu prüfen ist deshalb nach dem Maßstab des § 133, ob eine Willensübereinstimmung der beiden Erblasser gegeben war oder nicht (BGH NJW 91, 169; FamRZ 93, 318). Fehlt es an dieser Übereinstimmung, so ist zu prüfen, wie der jeweils andere Ehegatte die Verfügung verstehen durfte, denn er musste sich auf den Inhalt dieser Verfügung verlassen und einstellen (BGH FamRZ 93, 318). Ggf kommt eine Umdeutung (Rn 18) des Ehegattentestaments in zwei Einzeltestamente in Betracht (Kanzleiter ZEV 96, 306).