Prof. Dr. Martin Avenarius
I. Objektive Voraussetzungen.
Rn 2
Der Erblasser persönlich muss die Urschrift der Urkunde vernichtet oder verändert haben. Dafür genügt es, wenn er sich eines Dritten bedient, der ohne eigenen Entscheidungsspielraum im Auftrag und mit Willen des Erblassers zu dessen Lebzeiten die Urkunde vernichtet (BayObLG FamRZ 92, 1351; Hamm NJW-RR 02, 223). Wird nach dem Erbfall die Testamentsurkunde verändert aufgefunden, folgt daraus keine gesetzliche Vermutung dafür, dass der Erblasser selbst die Veränderung vorgenommen habe.
Rn 3
Die Veränderung muss an der Testamentsurkunde vorgenommen werden. Ein amtlich verwahrtes Testament wird daher nicht durch Veränderung einer Abschrift desselben widerrufen, sofern die Veränderung nicht ihrerseits die formellen Voraussetzungen eines Testaments erfüllt (Frankf NJW 50, 607 [OLG Frankfurt am Main 22.09.1949 - 2 a W 7/49]). Entspr gilt, wenn von mehreren Urkunden nur eine vernichtet oder verändert wird; hinsichtlich der intakt bleibenden Urkunden ist 1 nicht erfüllt und auch die Vermutung des 2 gilt nicht. In der Vernichtung eines Testaments liegt nicht zwangsläufig ein Widerruf anderer, im Wesentlichen gleich lautender Testamente (BayObLG NJW-RR 90, 1481 [BayObLG 06.07.1990 - BReg 1 a Z 30/90]).
Rn 4
Die Widerrufshandlung besteht in der Vernichtung oder Veränderung der Urkunde. Der Erblasser kann die Urkunde etwa durch- bzw einreißen (BayObLGZ 83, 206; NJW-RR 96, 1094 [BayObLG 21.02.1996 - 1Z BR 35/96]), zerknüllen (BayObLGZ 80, 97) oder den Text durchstreichen. ›Verändert‹ wird die Urkunde auch durch einen Entwertungsvermerk (zB ›ungültig‹). Selbst wenn dieser nicht eigens unterschrieben ist, kann darin der Widerruf des gesamten Testaments oder einzelner in Bezug genommener Verfügungen liegen, wenn sich in ihm ein Widerrufswille manifestiert (vgl KG NJW 57, 1364 [KG Berlin 31.01.1957 - 1 W 2539/56]). Ein solcher Vermerk auf dem Umschlag des Testaments genügt nicht, selbst wenn dieser verschlossen ist (BayObLGZ 63, 33; differenzierend Soergel/Runge-Rannow Rz 8). Auf diese Weise kann ein Widerruf nur unter den Voraussetzungen des § 2254 erfolgen. Auch Öffnen oder Beschädigen des Umschlags genügen nicht (BGH NJW 59, 2114 [BGH 24.09.1959 - II ZR 46/59]). Ein durch Streichung des Textes widerrufenes Testament kann uU zur Auslegung eines späteren, unvollständigen Testaments herangezogen werden, wenn der Erblasser dieses gemeinsam mit dem widerrufenen Testament in einem verschlossenen Umschlag aufbewahrt hat (BayObLG FGPrax 05, 26). Zum Widerruf durch Streichung in einer Testamentskopie vgl München NJW-RR 06, 11 [OLG München 25.10.2005 - 31 Wx 72/05].
Rn 5
Ein teilweiser Widerruf des Testaments ist möglich (§ 2253), indem zB einzelne Verfügungen gestrichen oder von der Urkunde abgeschnitten werden (Hamm FGPrax 08, 32; BayObLG FamRZ 03, 1783). Durch den Widerruf einzelner Verfügungen kann sich allerdings auch der Inhalt der anderen verändern, so zB wenn das Testament nun lückenhaft oder auslegungsbedürftig wird (BayObLG FamRZ 91, 1115). Wird zB von mehreren, auf bestimmte Quoten eingesetzten Miterben einer gestrichen, dann ist zu prüfen, ob sich gem §§ 2088, 2089 die Erbquoten der anderen Miterben verändern (BayObLG NJW-RR 03, 151). Entspr gilt, wenn der Erblasser die infolge Teilwiderrufs entstehende Lücke durch eine positive letztwillige Verfügung ausfüllen wollte, die aber wegen Formverstoßes unwirksam ist (vgl Soergel/Runge-Rannow Rz 9 mwN). Streicht der Testator die Einsetzung zum Alleinerben, dann tritt Nichtigkeit ein. Die Ergänzung der Ankündigung, ein Begünstigter ›werde noch genannt‹, ändert daran nichts, sofern die Nennung unterbleibt (Stuttg 25.3.20 – 8 W 104/19).
II. Aufhebungsabsicht des Erblassers.
Rn 6
Ein Widerruf ist nur anzunehmen, wenn nach den Umständen des Falles und freier Beweiswürdigung kein Zweifel über den Aufhebungswillen des Erblassers besteht (KG FamRZ 95, 897 mwN). Vermutet wird die Aufhebungsabsicht nur, wenn der Erblasser die Vernichtung oder Veränderung der Urkunde selbst vorgenommen hat. Hierfür spricht der erste Anschein, wenn sich die Urkunde bis zuletzt im Gewahrsam des Erblassers befand (BayObLGZ 83, 208; AG Bamberg ErbR 22, 1142; vgl aber Ddorf FamRZ 17, 1162). Wurden die Veränderungen nicht an der Originalurkunde, sondern nur an einer Durchschrift des Testaments vorgenommen, wird die Aufhebungsabsicht nicht vermutet (KG Rpfleger 95, 417 [KG Berlin 06.01.1995 - 1 W 7563/93]), und auch nicht, wenn nur eines von mehreren Originalen vernichtet wird (Köln BWNotZ 20, 111). Gleiches gilt, wenn der Erblasser bei der Vernichtung irrig von der Aufhebung durch ein anderes Testament ausgegangen ist (Hamm NJW-RR 02, 223 [OLG Hamm 11.09.2001 - 15 W 224/01]).
Rn 7
Dienten Teilstreichungen nur der Vorbereitung eines inhaltsgleichen neuen Testaments, dann kann die Vermutung als widerlegt angesehen werden (BayObLG NJW-RR 97, 1303 [OLG Stuttgart 07.02.1997 - 13 W 3/97]; vgl RGZ 71, 300; 111, 265). Die Übergabe des zerrissenen Testaments an einen Dritten, der die Stücke wieder zusammensetzt, widerlegt die Vermutung nicht (BayObLG NJW-R...