Prof. Dr. Martin Avenarius
Gesetzestext
(1) Haben die Ehegatten in einem gemeinschaftlichen Testament, durch das sie sich gegenseitig als Erben einsetzen, bestimmt, dass nach dem Tode des Überlebenden der beiderseitige Nachlass an einen Dritten fallen soll, so ist im Zweifel anzunehmen, dass der Dritte für den gesamten Nachlass als Erbe des zuletzt versterbenden Ehegatten eingesetzt ist.
(2) Haben die Ehegatten in einem solchen Testament ein Vermächtnis angeordnet, das nach dem Tode des Überlebenden erfüllt werden soll, so ist im Zweifel anzunehmen, dass das Vermächtnis dem Bedachten erst mit dem Tode des Überlebenden anfallen soll.
A. Allgemeines.
Rn 1
Im gemeinschaftlichen Testament verfügen Ehegatten oftmals, dass der Nachlass des Erstversterbenden zunächst an den überlebenden Teil und dann an einen Dritten, etwa ein Kind, fallen soll. Zweifelhaft kann dabei sein, welches Regelungsmodell die Erblasser wollten: So kann der überlebende Ehegatte als Vorerbe und der Dritte als Nacherbe (§ 2100) eingesetzt sein, so dass der Dritte als Erbe des Zweit- und Nacherbe des Erstverstorbenen zwei getrennte Nachlässe erhält (sog Trennungslösung). Auch ist möglich, dass der überlebende Ehegatte Vollerbe werden und das vereinigte Vermögen beider Ehegatten später an den Dritten als Schlusserben gehen soll (sog Einheitslösung; vgl BayObLG NJW-RR 91, 968 [BayObLG 15.03.1991 - BReg 1 a Z 33/90]). Schließlich kommt auch in Betracht, dass der Dritte den Erstversterbenden sogleich beerben, der überlebende Ehegatte aber ein Nießbrauchsvermächtnis am Nachlass bekommen soll. Als ›Dritter‹ können auch mehrere Personen eingesetzt werden, uU sogar pauschal ›die Angehörigen‹ (München ZEV 12, 367 [OLG München 15.05.2012 - 31 Wx 244/11]).
B. Voll- und Schlusserbeneinsetzung.
I. Auslegungsregel des Abs 1.
Rn 2
I enthält eine Auslegungsregel (BGH WM 73, 41; BayObLG NJW-RR 92, 201 [BayObLG 08.10.1991 - BReg 1 Z 34/91]). Sie gibt der Vollerbeneinsetzung des überlebenden Ehegatten den Vorzug; der Dritte ist Schlusserbe (sog ›Berliner Testament‹). Die Regel gründet sich auf den Erfahrungssatz, dass Ehegatten ihr Vermögen im Zweifel über den Tod hinaus als Einheit erhalten wollen (Prot V, 406; RGZ 113, 240; BayObLGZ 66, 417; vgl Muscheler ZEV 23, 352).
1. Voraussetzungen der Auslegungsregel.
Rn 3
Die Ehegatten müssen einander gegenseitig zu Erben eingesetzt haben. Dies muss nicht wechselbezüglich gem § 2270 erfolgt sein. Ist ein Dritter als Miterbe eingesetzt, findet § 2269 keine Anwendung; die Ehegatten wollen dann offenbar nicht, wie § 2269 es voraussetzt (s Rn 2), ihr Vermögen als Einheit erhalten. Möglich ist, dass sich die nicht ausdrücklich vorgenommene Einsetzung des überlebenden Ehegatten erst aus der Schlusserbeneinsetzung ergibt, jedenfalls wenn die Letztere sonst ausfiele (Brandbg ErbR 21, 685 [OLG Brandenburg 30.03.2021 - 3 W 38/21]). Die Verfügungen können in mehreren zeitlich getrennten Teilakten errichtet werden, sofern die Testierenden sie als Einheit gelten lassen wollen (Brandbg FGPrax 23, 75 [OLG Brandenburg 17.01.2023 - 3 W 133/22]).
Rn 4
Ist die Erbeinsetzung des Dritten nicht ausdrücklich verfügt, kann sie sich ggf im Wege der Auslegung ergeben. Sollen aufgrund einer Strafklausel beiderseits pflichtteilsberechtigte Abkömmlinge vom letztversterbenden Ehegatten nur den Pflichtteil bekommen, falls sie ihn vom Erstversterbenden verlangen (Jastrowsche o Pflichtteilsstrafklausel), dann kommt die Einsetzung dieser Abkömmlinge als Schlusserben in Betracht (BayObLGZ 59, 203; 60, 219; Frankf FGPrax 01, 246 [OLG Frankfurt am Main 28.08.2001 - 20 W 432/00]; Saarb NJW-RR 94, 844 [OLG Saarbrücken 06.01.1994 - 5 W 119/93 - 70] gegen 92, 841), ist allerdings nicht zwingend (Hamm ZEV 23, 231 [OLG Hamm 29.03.2022 - 10 W 91/20]; i Zw abl Ddorf NJW-RR 14, 837; restriktiv Fischer ZEV 05, 189). Gleiches gilt, wenn die Abkömmlinge nach fortgesetzter Gütergemeinschaft (§ 1483) den Nachlass teilen sollen (BayObLGZ 86, 246). Die Errichtung des Testaments unter Mitwirkung eines Notars schließt eine solche Auslegung jedenfalls nicht aus (München ZErb 12, 235).
Rn 5
Die Regel findet nur Anwendung, wenn Zweifel am Erblasserwillen bestehen, die sich auch durch Auslegung nicht klären lassen (BGHZ 22, 366; Ddorf FamRZ 96, 1568). Auf einen entgegenstehenden Willen kann uU die verwendete Terminologie hindeuten. Dies kommt etwa in Betracht, wenn im öffentlichen Testament die Ausdrücke ›Vorerbe‹ sowie ›Nacherbe‹ verwendet werden. Wenn die Eheleute einander allerdings im eigenhändigen Testament zu ›Vorerben‹ eingesetzt haben, während beiderseitige Verwandte oder Abkömmlinge ›Nacherben‹ sein sollen, kann gleichwohl zweifelhaft sein, ob Nacherbschaft gewollt ist (BGH NJW 83, 278 m Anm Stürner JZ 83, 149; Schlesw FamRZ 17, 403; Ddorf aaO m Anm Leipold; s aber BayObLG NJW-RR 92, 201). Umgekehrt entscheidet die Verwendung des Ausdrucks ›Berliner Testament‹ nicht über das Ergebnis der Auslegung (Hamm ZErb 14, 286), kann aber ein Indiz bilden (Celle ErbR 23, 135 m Anm Kampmann). Ist ein Ehegatte vermögenslos, dann spricht dies nicht zwingend dafür, dass er im Falle seines Überlebens durch Nacherbeneinsetzung beschränkt sein soll (...