Gesetzestext
(1) Eine durch Notwehr gebotene Handlung ist nicht widerrechtlich.
(2) Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.
A. Allgemeines.
Rn 1
§ 227 ist wie die Parallelvorschrift des § 32 StGB Ausdruck des allg Rechtsprinzips, dass Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht (s.a. Rn 9). Neben dem Individualrechtsschutz dient die Norm auch dem objektiven Interesse nach Bewährung der Rechtsordnung (MüKo/Grothe Rz 1). Wegen der inhaltlichen Nähe zum § 32 StGB können für die Auslegung des § 227 die dortigen Überlegungen weitgehend entspr angewandt werden.
B. Schutzgüter.
Rn 2
Notwehr kann geübt werden zum Schutz von Rechtsgütern aller Art, auch als Nothilfe zum Schutz fremder Güter (II: ›einem anderen‹; Rn 10), mithin nicht beschränkt auf den Bereich der absoluten Rechte wie Leib, Leben, Gesundheit, Freiheit ua. Geschützt sind bspw die Fortbewegungsfreiheit im Straßenverkehr (Schlesw NJW 84, 1470 [OLG Schleswig 03.02.1984 - 1 Ss 623/83]), das Recht zum Aufsuchen des Arbeitsplatzes (Löwisch/Krauß DB 85, 1330), das Hausrecht (Nürnbg NJW-RR 12, 1373 f [OLG Nürnberg 13.02.2012 - 4 U 2003/11]; Ddorf NJW 97, 3383, 3384), das allg Persönlichkeitsrecht einschl der Fälle des § 201a StGB (Ddorf NJW 94, 1971 f [OLG Düsseldorf 15.10.1993 - 2 Ss 175/93 - 65/93 II]; Hambg NJW 72, 1290; s.a. §§ 23f KunstUrhG), auch die Abwehr von Rauchern im Nichtraucherabteil (Staud/Repgen Rz 11; aA LG Berlin NJW 78, 2343, 2344 [LG Berlin 07.06.1977 - 20 O 222/75]). Weder gegen Ehebruch (Köln NJW 75, 2344f [OLG Köln 17.04.1975 - 1 U 209/74]) noch zum Schutz der Forderungsrechte hilft § 227 (MüKo/Grothe Rz 7). Im Falle sonstiger Beweisnot kann bei notwehrähnlicher Lage auch ein Eingriff in fremde Rechte gerechtfertigt sein, um Beweismittel für zivilrechtliche Ansprüche zu sichern (iE str; vgl HP/Dennhardt Rz 10), doch ist hier das mit hohem Schutzniveau ausgestattete Persönlichkeitsrecht des Angegriffenen abzuwägen (vgl BGH NJW 13, 2668 Rz 23: zu GPS-Überwachung).
C. Die Notwehrlage.
I. Der Angriff.
Rn 3
›Angriff‹ ist die von einem Menschen ausgehende drohende Verletzung rechtlich geschützter Individualinteressen (vgl BGH NJW 08, 571 [BGH 30.10.2007 - VI ZR 132/06] Rz 11). Angreifer iSd § 227 kann auch ein Schuldunfähiger wie bspw ein Kind oder ein Geisteskranker sein (BayObLG NJW 91, 2031 [BayObLG 28.02.1991 - RReg 5 St 14/91]). Erforderlich ist lediglich Handlungsfähigkeit. Sachen oder Tiere können keine Angreifer sein. Gegen sie ist Notstand nach § 228 möglich. Notwehr greift allerdings, wenn die Sache oder das Tier Werkzeug des menschlichen Angreifers ist. Bei juristischen Personen kann sich die Notwehr gegen deren Organe richten. Ein Angriff setzt stets ein nach wertender Betrachtung (vgl BVerfG NStZ 07, 397 ff [BVerfG 29.03.2007 - 2 BvR 932/06]: zu dichtem Auffahren; NJW 11, 3020 [BVerfG 07.03.2011 - 1 BvR 388/05]: zur ›Zweite-Reihe‹-Rspr des BGH bei Sitzblockaden) aktives Tun, nicht bloß ein Unterlassen oder Aufrechterhalten eines Zustandes voraus, da sonst die Abgrenzung der Notwehr zur Selbsthilfe und Notstand verschwömme (MüKo/Grothe Rz 5, einschr Staud/Repgen Rz 17). Die bloße Nichterfüllung zivilrechtlicher Pflichten, bspw die Räumungspflicht des Mieters, die Pflicht des Arbeitnehmers zum Verlassen des Arbeitsplatzes, die Herausgabepflicht eines Werkunternehmers oder Mieters (BGH NJW 67, 46, 47 [BGH 19.10.1966 - Ib ZR 156/64]), begründet kein Notwehrrecht.
II. Gegenwärtigkeit (§ 904 Rn 4–6).
Rn 4
Ein Angriff ist schon gegenwärtig, wenn sich die durch das Verhalten der Angreifer begründete Gefahr so verdichtet hat, dass ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlicher nicht mehr hinnehmbarer Risiken aussetzen würde (BGH NJW 13, 2133 [BGH 25.04.2013 - 4 StR 551/12] Rz 17). Abgeschlossen und damit nicht mehr gegenwärtig ist ein Angriff, wenn eine konkrete Gefährdung nicht mehr besteht (BGH NStZ-RR 13, 305, 306 [BGH 04.07.2013 - 4 StR 213/13]) oder aber die Verletzung bereits vollständig verwirklicht wurde. Für die Gegenwärtigkeit ist es allerdings ausreichend, wenn weitere Verletzungen ernsthaft zu befürchten sind (BGH VersR 71, 629, 630), bei Beleidigungen also bspw mit weiteren Beleidigungen zu rechnen ist (BGH VersR 63, 730). Notwehr kann auch noch gegen den flüchtenden Dieb geübt werden, solange dieser die Beute nicht freigibt (BGH JZ 03, 961, 962). Ein von mehreren Personen ausgeübter Angriff ist erst dann beendet, wenn von Seiten sämtlicher Angreifer keine Gefahr mehr droht (Kiel Recht 22 Nr 1138).
III. Rechtswidrigkeit.
Rn 5
Ist der Angriff selbst rechtmäßig, kommt eine Berufung auf Notwehr zu dessen Abwehr nicht in Betracht. Dabei gilt iRd § 227 die Lehre vom Erfolgsunrecht (§ 823 Rn 11), wonach die Rechtswidrigkeit am Erfolg der Angriffshandlung und nicht an der Handlung selbst gemessen wird (ausf Staud/Repgen Rz 27 ff). Notwehr scheidet daher aus ua gegen Notwehr, insb auch bei wechselseitigen Notwehrlagen, ferner bei anderen Rechtfertigungsgründen wie einer wirksamen oder m...