Prof. Dr. Martin Avenarius
Rn 8
Der überlebende Ehegatte wird von der Bindungswirkung frei, wenn er selbst das Zugewandte ausschlägt. Der gesetzliche Erbteil muss grds nur dann mit ausgeschlagen werden (vgl § 1948 I), wenn sich die Bindungswirkung nach dem Willen der Eheleute gerade auf die Zuwendung des gesetzlichen Erbteils beziehen sollte; Gleiches gilt, wenn gesetzlicher und testamentarischer Erbteil denselben Umfang haben (KG OLGZ 91, 10; aM Tiedtke FamRZ 91, 1259). Nach der Ausschlagung kann der Überlebende seine Verfügungen aufheben und ggf neu testieren (§§ 2253 ff). Das Recht zur Ausschlagung der Erbschaft ist zwar vererblich (§ 1952 I), doch wird eine den Überlebenden bindende Schlusserbeneinsetzung nicht dadurch hinfällig und ein späteres widersprechendes Testament des Überlebenden nicht dadurch wirksam, dass nach dem Tode des zuletzt verstorbenen Ehegatten die von diesem in dem jüngeren Testament Bedachten als seine Erben die ihm vom Erstverstorbenen hinterlassene Erbschaft ausschlagen (Zweibr NJW-RR 05, 8 [OLG Zweibrücken 01.07.2004 - 3 W 102/04]). Durch Rechtsgeschäft kann das Ausschlagungsrecht nicht übertragen werden (Staud/Otte § 1942 Rz 14). Während nach Zweibr NJW-RR 08, 240 [OLG Köln 28.11.2007 - 2 W 88/07] eine Ausübung des Ausschlagungsrechts durch einen Dritten aufgrund Vollmacht nicht möglich sein soll, verweist Keim ZErb 08, 260 richtigerweise auf § 1945 III. Er will den Ausschluss auf den Fall beschränken, dass die Ausschlagung einer gem II unwirksamen späteren Verfügung des Überlebenden nachträglich zur Wirksamkeit verhelfen soll, weil § 2065 I hier eine höchstpersönliche Erklärung fordere (str, vgl Ch. Schmidt ZNotP 08, 301).
Rn 9
Der Überlebende ist von der Bindungswirkung auch frei, soweit er durch Freistellungsklausel zur ganz oder teilweise freien Verfügung ermächtigt ist (BGHZ 2, 37; Schlesw ZEV 97, 333 m Anm Lübbert). Der Widerruf kann dann durch Testament erfolgen (Stuttg NJW-RR 86, 632 [OLG Stuttgart 25.02.1986 - 8 W 553/85]; §§ 2254, 2297; kein bloßer Ungültigkeitsvermerk); er ist auch schlüssig möglich (Köln NJW-RR 92, 1419). Der Widerruf nach Freistellung kann ohne Begründung erfolgen; § 2336 II ist unanwendbar (Köln aaO). Ob der Überlebende freigestellt sein soll, ist durch Auslegung zu ermitteln. Dabei kann sich zB aufgrund ergänzender Auslegung die freie Verfügungsbefugnis über nach dem Tode des Erstverstorbenen hinzugewonnenes Vermögen ergeben (Zweibr NJW-RR 92, 588). Strenge Maßstäbe sind anzulegen im Hinblick auf die Befugnis zur Abänderung der Berufung Dritter (BayObLG FamRZ 91, 1488), besonders gemeinsamer Kinder (Hamm Rpfleger 02, 151; vgl nun Bambg NJW-RR 20, 1464). Freie Befugnis zur Änderung der Erbanteile von Kindern umfasst idR auch die Berufung eines Kindes zur Alleinerbfolge (Hamm BeckRS 22, 32719; Frankf NJW-RR 20, 1017 [OLG Frankfurt am Main 18.05.2020 - 21 W 165/19]). Die Abänderung kann von der Zustimmung eines Dritten abhängig gemacht werden (§ 2065 Rn 5). Ist dem Überlebenden freie Verfügung über den Nachlass des Erstversterbenden eingeräumt, dann bezieht sich dies uU nur auf Verfügungen zu Lebzeiten (BayObLG FamRZ 85, 210; vgl Schlesw NJW-RR 14, 965 [OLG Schleswig 27.01.2014 - 3 Wx 75/13]).
Rn 10
Befreiung von der Bindungswirkung findet gem II 2 statt, wenn die Voraussetzungen der Pflichtteilsentziehung vorliegen (§§ 2294, 2336; vgl Müller ZEV 11, 240). Entspr gilt gem III bei Pflichtteilsbeschränkung ggü Abkömmlingen in guter Absicht (§§ 2289 II, 2338). Die Regelung soll bei Überschuldung des Abkömmlings ermöglichen, dass das Zugewandte in der Familie bleibt. Jeder Ehegatte kann die entspr Anordnungen treffen, auch wenn es sich um den Abkömmling des anderen handelt (MüKo/Musielak Rz 30). § 2337 II findet keine Anwendung (KG ZEV 11, 266 [KG Berlin 19.10.2010 - 1 W 361/10]).
Rn 11
Freie Verfügungsbefugnis des Überlebenden besteht auch, soweit die bindende Verfügung gegenstandslos geworden ist. Dies kommt etwa in Betracht bei Wegfall durch Tod (Frankf NJW-RR 95, 266), Erbunwürdigkeit, Erbverzicht (Köln FamRZ 83, 838 m Anm Brems aaO 1278; BayObLG FamRZ 01, 320). In den Fällen der §§ 2069, 2094 bleibt es bei der Bindungswirkung (Hamm OLGZ 82, 276).