Gesetzestext
Wer zum Zwecke der Selbsthilfe eine Sache wegnimmt, zerstört oder beschädigt oder wer zum Zwecke der Selbsthilfe einen Verpflichteten, welcher der Flucht verdächtig ist, festnimmt oder den Widerstand des Verpflichteten gegen eine Handlung, die dieser zu dulden verpflichtet ist, beseitigt, handelt nicht widerrechtlich, wenn obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist und ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung des Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert werde.
A. Allgemeines.
Rn 1
Der Einzelne hat sich zur Durchsetzung oder Sicherung von Ansprüchen grds der staatlichen Organe zu bedienen (vgl §§ 704 ff ZPO). Eigenmacht ist grds verboten (§ 858). Unter Durchbrechung dieses Grds erlauben die §§ 229–231, die von weiteren eng umgrenzten Tatbeständen erlaubter Selbsthilfe (§§ 562b, 859, 860, 910 und 962) flankiert werden, ausnahmsweise die Rechtsdurchsetzung im Wege der Selbsthilfe zur vorläufigen Sicherung des Anspruchs: Nach § 230 II–IV muss bei Eingriff mittels Festnahme oder Wegnahme Arrestantrag gem §§ 916 ff ZPO gestellt werden. Die §§ 229–231 können nicht durch Parteivereinbarung erweitert werden, da sie eine Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols darstellen (RGZ 131, 213, 222), wohl aber sind Abreden über die Ausgestaltung von zulässigen Selbsthilfemaßnahmen möglich. Über Art 89 EGBGB gelten landesrechtliche Normen zur ›Privatpfändung‹.
B. Voraussetzungen.
I. Eigener Anspruch.
Rn 2
Geschützt sind (ggf betagte oder bedingte, vgl § 916 II ZPO) Ansprüche iSd § 194 I. Der Anspruch muss allerdings durchsetzbar sein. Unklagbare, verjährte oder rechtskräftig abgewiesene Ansprüche rechtfertigen ebenso nicht wie der bloße Glaube an das Bestehen eines Anspruchs. Taschenkontrollen im Supermarkt sind daher nur gerechtfertigt, wenn ein Ladendiebstahl und damit Herausgabeanspruch vorliegt; nicht genügt, dass bei summarischer Prüfung aus objektiver Sicht ex ante ein konkreter Diebstahlsverdacht besteht (so aber BGH NJW 96, 2574, 2575 f [BGH 03.07.1996 - VIII ZR 221/95]; dagegen Staud/Repgen Rz 11). Bei Vertragsverhältnissen ist auch der Nebenanspruch auf Auskunft aus § 242 erfasst (BayObLG NJW 91, 934, 935: Bewirtungsvertrag; Ddorf NJW 91, 2716, 2717: Taxifahrt; Karlsr VRS 58, 393 f: Fahrt in Straßenbahn). Selbsthilfe kann nur hinsichtlich eigener Ansprüche, nicht zugunsten Dritter geübt werden (ghM). Gesetzliche oder rechtsgeschäftliche Vertreter sowie beauftragte Dritte können Selbsthilfe zugunsten des Berechtigten üben; auch berechtigte GoA steht angesichts des Wortlauts (›Selbsthilfe‹) nicht gleich (Grüneberg/Ellenberger Rz 3; aA bei erteilter Genehmigung MüKo/Grothe Rz 2). Der Helfer kann sich Unterstützung Dritter bedienen. Selbsthilfe zur Verwirklichung öffentlich-rechtlicher Ansprüche und schon wegen Rn 3 auch iÜ ggü der öffentlichen Gewalt scheidet aus.
II. Erlangung obrigkeitlicher Hilfe.
Rn 3
Soweit die Inanspruchnahme staatlicher Organe zur Rechtsdurchsetzung (Vollstreckungsorgan oder hilfsweise Polizei) möglich ist, scheidet Selbsthilfe aus. Kommt eine einstweilige Verfügung (§§ 935 ff ZPO) oder ein Arrest (§§ 916 ff ZPO) oder ggf die Einleitung eines Insolvenzverfahrens (§ 17 InsO) oder Anfechtung nach AnfG noch zeitig genug, so ist dieses Mittel zu wählen. Grds ist auch zumutbar, den Rechtsweg zu beschreiten. Unzulässig sind daher die eigenmächtige Räumung einer Wohnung (BGH NJW 10, 3434 Rz 9f) oder Gewerbefläche (Naumbg ZMR 13, 112: zur Schlosserei; anders zur Unterbrechung der Versorgung beim Gewerberaummietvertrag BGH NJW 09, 1947 [BGH 06.05.2009 - XII ZR 137/07] Rz 20 ff) oder Garage (Nürnbg 23.8.13 – 5 U 160/12) oder die Inbesitznahme eines PKW durch Wegnahme des Zweitschlüssels (Saarbr MDR 07, 510f [OLG Saarbrücken 24.10.2006 - 4 U 229/06]) oder durch Anbringung einer Parkkralle.
III. Vereitelungsgefahr.
Rn 4
Die Durchsetzung des eigenen Anspruchs muss ohne die Selbsthilfe vereitelt oder zumindest erheblich erschwert, dh gefährdet, sein; Verschulden ist insoweit irrelevant. Bloße Beweisschwierigkeiten rechtfertigen Selbsthilfe nicht (BGH NJW 62, 1923). Die Volldurchsetzung des Anspruchs bspw durch Griff in das Portemonnaie des Schuldners kann ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn dessen Flucht ins Ausland droht. Grds zielt die Selbsthilfemaßnahme aber nur auf Sicherung (BayObLG NJW 91, 934, 945 [BayObLG 18.10.1990 - RReg. 5 St 92/90]). Eine bestehende Sicherheit kann Gefährdung von Geldansprüchen ausschließen, ein bloßer schuldrechtlicher Ersatzanspruch (zB §§ 280 I, III, 281) hingegen nicht.
C. Die Selbsthilfemaßnahmen.
Rn 5
Grds kommen als Maßnahmen der Selbsthilfe nur solche in Betracht, die auch iRe hoheitlichen Verfahrens von staatlichen Organen vorgenommen werden können (vgl § 230 II–IV). Erforderlich (§ 230 I) ist das Mittel, das die Gefahr auf die mildeste Weise abwendet. Genügt die Wegnahme einer Sache, darf also keine Festnahme erfolgen. Selbsthilfe erfordert zielgerichteten Selbsthilfewillen (Karlsr GRUR-RR 08, 350, 351; aA Staud/Repgen Rz 41).
Rn 6
Objekte der Sachgewalt dürfen nur pfändbare (§ 811 ZPO) Sachen des Schuldners, die vollstreckungs- und arrestfähig (vgl § 230 II) sind, s...