1. Begriff und Gegenstand.
Rn 61
Unter Verwirkung wird der Ausschluss der Rechtsausübung wegen illoyaler Verspätung verstanden (BGHZ 92, 184, 187; 105, 250, 256; BGH NJW-RR 03, 727, 728; BGH NJW 15, 2061 Rz 24; BAG E 6, 165, 167; BAG AP Nr 6 zu § 108 InsO Rz 40; BAG NZA-RR 15, 371 [BAG 10.03.2015 - 3 AZR 56/14] Rz 70); sie ist von der Verwirkung durch treuwidriges Verhalten (s.o. Rn 48) zu unterscheiden (NK/Krebs § 242 Rz 103). Die Verwirkung gilt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens (BGHZ 84, 280, 284; BGH NJW 07, 2183; BAG NZA 09, 1149 Rz 19; BGH NJW 15, 1750 Tz 11; Kegel FS Pleyer 1986, 523; s Rn 32) oder jedenfalls als mit dieser verwandt (BGHZ 21, 67, 79 f; NK/Krebs § 242 Rz 99) und soll auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes beruhen (Canaris Vertrauenshaftung 266). Richtigerweise handelt es sich bei der Verwirkung entgegen der hA in Deutschland jedoch um einen stillschweigend erklärten Verzicht, welcher sich aus dem Erklärungswert des Verhaltens des Berechtigten ergibt und von dessen Willen grds unabhängig ist (insoweit zutr BGHZ 25, 47, 52; BGH NJW 96, 588). Folglich haben – entgegen der hA – die Regeln der Rechtsgeschäftslehre zur Anwendung zu gelangen.
2. Anwendungsbereich.
Rn 62
Der Verwirkung unterliegen grds sämtliche Rechte, Rechtsstellungen und Befugnisse. Sie findet im gesamten Bereich des Privatrechts als allg Regel Anwendung und zwar einschl des Familienrechts (BGH FamRZ 02, 1698 ff), des Erbrechts (München FamRZ 05, 1120; vgl BVerfG NJW 07, 1043), der gewerblichen Schutzrechte (BGH GRUR 01, 1161, 1163; Kobl GRUR-RR 06, 184; BGH NJW 14, 1888 [BGH 06.02.2014 - I ZR 86/12]), wobei ggf das unionsrechtliche Verbot des Rechtsmissbrauchs (s Rn 3) zu konkretisieren ist, und des Arbeitsrechts (BAG BB 88, 978), ferner im Öffentlichen Recht (BVerwGE 6, 204, 205; 44, 339, 343) einschl des Sozialrechts (BSG BeckRS 13, 69329 Rz 9 f; BSG BeckRS 14, 71984 Rz 19 ff) und der Prozessrechte (BGHZ 97, 212, 220 f; BAG NZA 07, 396; BAG EBE/BAG 10, 139; BVerwG BeckRS 19, 18312). An die Verwirkung dinglicher Rechte und der sie begleitenden Ansprüche sind wegen der enteignenden Wirkung besonders hohe Anforderungen zu stellen; das entspricht auch der Wertung von §§ 900, 902 (s BGH NJW 07, 2183 f [BGH 16.03.2007 - V ZR 190/06] Rz 8 ff [›schlechthin unerträglich‹]). Die Verwirkung ergänzt bestehende Verjährungs- und Ausschlussfristen und wird durch diese nicht verdrängt. Da der Verwirkungseinwand jedoch nicht zur Aushöhlung dieser Fristen führen darf, muss er auf Ausnahmefälle beschränkt sein (BGH NJW-RR 92, 1240, 1241 [BGH 26.05.1992 - VI ZR 230/91]; BSG BeckRS 20, 8219 Rz 10). Die Verkürzung der regelmäßigen Verjährungsfrist auf drei Jahre hat den Anwendungsbereich der Verwirkung daher erheblich verkleinert (BGH NJW 07, 1273, 1275 [BGH 22.11.2006 - XII ZR 152/04]; Grüneberg/Grüneberg § 242 Rz 93), die ›nur unter ganz besonderen Umständen angenommen werden‹ kann (BGH NJW 14, 1230 [BGH 23.01.2014 - VII ZR 177/13] Rz 13).
Rn 63
Gelegentlich finden sich auch gesetzliche Sondervorschriften zur Verwirkung, deren Voraussetzungen kraft Spezialität an die Stelle der allg Verwirkungsregeln treten, vgl § 21 MarkenG, §§ 314 III, 626 II, 27 VersAusglG (BGH FamRZ 07, 997, 1000 [zu § 1587c aF]); das gilt jedoch nicht für § 1585b II, III (BGH NJW 07, 1273, 1275) und § 613a VI (BAG NZA 07, 793, 797 [BAG 15.02.2007 - 8 AZR 431/06]; NZA 18, 854). Besonders im Arbeitsrecht finden sich auch Verwirkungsausschlüsse; dies gilt etwa für § 4 IV 2 TVG (ausdrücklicher Verwirkungsausschluss, der freilich nicht für einzelvertraglich begründete Ansprüche gilt, BAG NZA 07, 690, 691 [BAG 14.02.2007 - 10 AZR 35/06]), für § 77 IV 3 BetrVG (Arbeitnehmerrechte aus Betriebsvereinbarungen) sowie für Unterlassungsansprüche nach §§ 1, 2 UKlaG (BGH NJW 95, 1488 [zu § 13 AGBG aF]). Dasselbe nimmt das BAG für die elementaren Rechte des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis, etwa für den Lohnanspruch, den gesetzlichen Urlaubsanspruch oder für Versorgungsbezüge an (BAG NJW 55, 157, 159 [BAG 23.09.1954 - 2 AZR 31/53]; BAG BB 58, 117; BAG DB 70, 787, 788), jedoch nicht für die Nichteinhaltung einer Kündigungsfrist (BAG NJW 06, 2284, 2287 [BAG 15.12.2005 - 2 AZR 148/05]; vgl § 4 KSchG) sowie für den Widerspruch gegen den Betriebsübergang nach § 613a (BAG NZA 09, 1149 [BAG 02.04.2009 - 8 AZR 262/07] Rz 15 ff; bedenklich, da ohne Prüfung der EU-Richtlinie). Das gleiche galt für die Berufung des Arbeitnehmers darauf, überhaupt zu einem Unternehmen in einem Arbeitsverhältnis zu stehen (BAG AP Nr 4 zu § 13 AÜG); hier deutet sich aber ein Wandel hin zu einem Verwirkungsausschluss an (im Ergebnis noch offen gelassen BAG NZA 16, 951 [BAG 24.02.2016 - 7 AZR 182/14] Rz 22).
3. Voraussetzungen.
Rn 64
Verwirkung setzt zunächst voraus, dass zwischen der ersten Möglichkeit der Geltendmachung des betreffenden Rechts und seiner tatsächlichen Geltendmachung ein längerer Zeitraum verstrichen ist, währenddessen der Berechtigte untätig geblieben ist: ›Zeitmoment‹. Der Zeitablauf allein genügt für den Eintrit...