Rn 18
§ 275 II normiert einen zum Schuldrecht aF von der Rspr (BGHZ 59, 365, 367; 62, 388, 391, 394; 114, 383, 389) entwickelten Gedanken: Das Recht des Gläubigers auf Naturalerfüllung endet dort, wo die Leistung unmöglich ist oder vom Schuldner unzumutbare Anstrengungen erfordert (sog ›Opfergrenze‹; s zur Übernahme der bisherigen Rspr BGH NJW 05, 3284 [BGH 20.07.2005 - VIII ZR 342/03]; BGH MDR 10, 798, 799). Man spricht – ohne sachlichen Gewinn und mit der Gefahr der Irreführung – auch von ›faktischer‹ oder ›praktischer‹ Unmöglichkeit (vgl Canaris JZ 01, 499, 501; Jauernig/Stadler § 275 Rz 24). Das Gesetz gebietet hier eine vergleichende Abwägung zwischen dem für den Schuldner erforderlichen Aufwand und dem Gläubigerinteresse (›unter Beachtung des Inhalts des Schuldverhältnisses und der Gebote von Treu und Glauben‹), deren Ergebnis bei einem ›groben Missverhältnis‹ den Schuldner zur Leistungsverweigerung berechtigen kann. Auch ideelle Gläubigerinteressen, also nicht nur Vermögensinteressen, sind mE zu berücksichtigen. Im Falle der Abtretung ist der Zessionar der maßgebende Gläubiger (Staud-Eckpfeiler/Schmidt-Kessel [2011] H. Rz 25). In die Abwägung einzubeziehen ist auch, ob der Schuldner das Leistungshindernis zu vertreten hat, § 275 II 2. Neben § 275 II können §§ 439 IV, 635 III, 651k I Nr 2 zur Anwendung gelangen. Beim Verbrauchsgüterkauf ist eine Verweigerung beider Arten der Nacherfüllung gem § 275 II möglich. Art 13 III der RL 2019/771/EU lässt dies, anders als die durch sie abgelöste RL 1999/44/EG, zu. Abweichendes gilt für den Nacherfüllungsanspruch bei Verbraucherverträgen über die Bereitstellung digitaler Produkte: Gem § 327l II 3 findet § 275 II (und III) keine Anwendung (s § 327l Rn 6).
I. Abgrenzungen.
Rn 19
Die Grenze zwischen § 275 I u II kann im Einzelfall schwer zu ziehen sein (vgl etwa Lobinger Leistungspflichten 362 und öfter; Picker JZ 03, 1035, 1036 ff). Die praktische Spitze in diesen Fällen liegt freilich (nur) darin, dass bei Unmöglichkeit eine vAw zu berücksichtigende Einwendung eingreift, bei Unzumutbarkeit iSv § 275 II der Schuldner dagegen eine Einrede erheben muss, wenn er sich erfolgreich gegen einen Erfüllungsanspruch verteidigen will.
Rn 20
Das Verhältnis von § 275 II zu § 313 wird vielfach als problematisch gesehen (s etwa Stürner Jura 10, 721), was auf einem Missverständnis der unterschiedlichen Funktionen beider Vorschriften beruht: Während § 275 II lediglich den Anspruch auf Erfüllung in Natur sperrt, kann die Regelung über den Wegfall der Geschäftsgrundlage zu einer Umgestaltung des gesamten Vertrages führen. Versuche einer tatbestandlichen Abgrenzung beider Vorschriften (zuletzt Stürner Jura 10, 721 ebenso § 313 Rn 6) sind daher bereits im Ansatz unzutreffend. Ggü einem Erfüllungsanspruch des Gläubigers bei Leistungshindernissen, die nur mit unzumutbaren Anstrengungen überwunden werden können, findet daher zunächst § 275 II Anwendung, dh der Schuldner kann die Leistung verweigern (Kindl WM 02, 1313, 1316). Beide Seiten können dann jedoch Vertragsanpassung nach § 313 verlangen, welche die Voraussetzungen der Einrede nach § 275 II regelmäßig beseitigen wird (wie hier Jauernig/Stadler § 275 Rz 3; aA § 313 Rn 6). § 313 ist daher geeignet, die Regelung des § 275 (auch von Abs I!) zu überspielen.
II. Voraussetzungen.
Rn 21
Ausgangspunkt der nach § 275 II erforderlichen Abwägung ist das Gläubigerinteresse. Freilich bereitet dessen Bestimmung Schwierigkeiten. Da es um die Frage der Begrenzung des Anspruchs auf Erfüllung in Natur wegen Unzumutbarkeit für den Schuldner geht, kann es nicht um das Erfüllungsinteresse des Gläubigers im schadensrechtlichen Sinne gehen (so offenbar BGH NJW 05, 3284 [BGH 20.07.2005 - VIII ZR 342/03]). Vielmehr geht es um das Interesse des Gläubigers an der Leistung in Natur durch den Schuldner selbst (s NK/Dauner-Lieb § 275 Rz 44; Schlechtriem/Schmidt-Kessel Schuldrecht AT Rz 483; unklar Grüneberg/Grüneberg § 275 Rz 27). Das stützt auch der Wortlaut: Der Wortteil ›Leistung‹ bezieht sich – wie auch sonst in § 275 und in §§ 280–285, 323, 326 – auf den Anspruch auf Erfüllung in Natur und nicht etwa auf das gesamte Interesse, welches der Gläubiger an der Einhaltung der schuldnerischen Pflicht hat. Das grobe Missverhältnis nach § 275 II 1 muss sich daher gerade daraus ergeben, dass der Aufwand des Schuldners völlig außer Verhältnis steht zu dem – vom Vertrag gedeckten – Interesse des Gläubigers, gerade von ihm Erfüllung in Natur zu erhalten. Dieses Interesse kann auch immateriell sein (NK/Dauner-Lieb § 275 Rz 44) und sich gerade auf die Leistung dieses Schuldners (Bsp: Maler, Architekten) beziehen. Unerheblich ist die dem Schuldner zustehende Gegenleistung (Jauernig/Stadler § 275 Rz 25), auch wenn diese ein Indiz für das Gläubigerinteresse sein kann. Ebenso unerheblich ist das Erfüllungsinteresse iS eines Schadensersatzes statt der Leistung; ihm kommt allenfalls indizielle Funktion zu und es bildet nicht (auch nicht in der Regel) die Untergrenze des Gläubigerinteresses (aA NK/Dauner-Lieb § 275 Rz 44).