Rn 21
Ausgangspunkt der nach § 275 II erforderlichen Abwägung ist das Gläubigerinteresse. Freilich bereitet dessen Bestimmung Schwierigkeiten. Da es um die Frage der Begrenzung des Anspruchs auf Erfüllung in Natur wegen Unzumutbarkeit für den Schuldner geht, kann es nicht um das Erfüllungsinteresse des Gläubigers im schadensrechtlichen Sinne gehen (so offenbar BGH NJW 05, 3284 [BGH 20.07.2005 - VIII ZR 342/03]). Vielmehr geht es um das Interesse des Gläubigers an der Leistung in Natur durch den Schuldner selbst (s NK/Dauner-Lieb § 275 Rz 44; Schlechtriem/Schmidt-Kessel Schuldrecht AT Rz 483; unklar Grüneberg/Grüneberg § 275 Rz 27). Das stützt auch der Wortlaut: Der Wortteil ›Leistung‹ bezieht sich – wie auch sonst in § 275 und in §§ 280–285, 323, 326 – auf den Anspruch auf Erfüllung in Natur und nicht etwa auf das gesamte Interesse, welches der Gläubiger an der Einhaltung der schuldnerischen Pflicht hat. Das grobe Missverhältnis nach § 275 II 1 muss sich daher gerade daraus ergeben, dass der Aufwand des Schuldners völlig außer Verhältnis steht zu dem – vom Vertrag gedeckten – Interesse des Gläubigers, gerade von ihm Erfüllung in Natur zu erhalten. Dieses Interesse kann auch immateriell sein (NK/Dauner-Lieb § 275 Rz 44) und sich gerade auf die Leistung dieses Schuldners (Bsp: Maler, Architekten) beziehen. Unerheblich ist die dem Schuldner zustehende Gegenleistung (Jauernig/Stadler § 275 Rz 25), auch wenn diese ein Indiz für das Gläubigerinteresse sein kann. Ebenso unerheblich ist das Erfüllungsinteresse iS eines Schadensersatzes statt der Leistung; ihm kommt allenfalls indizielle Funktion zu und es bildet nicht (auch nicht in der Regel) die Untergrenze des Gläubigerinteresses (aA NK/Dauner-Lieb § 275 Rz 44).
Rn 22
Der auf der Gegenseite einzustellende Aufwand des Schuldners ist wegen § 275 III rein materiell. Es geht um aufzuwendendes Geld und Material sowie um die vorzunehmenden Tätigkeiten (Jauernig/Stadler § 275 Rz 25). Nicht zu berücksichtigen ist, dass der Schuldner noch andere Lasten zu tragen hat (BGH NJW 02, 3543, 3545 [BGH 07.03.2002 - VII ZR 1/00] [Ausgleich bereits eingetretener Mangelfolgeschäden]; Grüneberg/Grüneberg § 275 Rz 28). Der Gläubiger kann sich am Aufwand des Schuldners beteiligen und diesen dadurch senken (Huber/Faust Schuldrechtsmodernisierung 36f).
Rn 23
Die Einrede nach § 275 II verlangt ein grobes Missverhältnis zwischen Gläubigerinteresse und Aufwand des Schuldners. Diese gesteigerten Anforderungen stellen sicher, dass die betreffenden Fälle als der Unmöglichkeit unter Wertungsgesichtspunkten zumindest nahekommend eingeordnet werden können (vgl Lorenz/Riehm Rz 310). Wegen der zusätzlich mit der Erhebung der Einrede verbundenen Beurteilung der Lage durch den Schuldner als unzumutbar genügen aber auch weniger einschneidende Störungen. Zu beachten ist, dass lediglich die Naturalerfüllung aber gerade nicht die Pflicht (und damit der Schadensersatz) ausgeschlossen wird. Bei der Abwägung ist die gesamte vertragliche und gesetzliche Risikoverteilung zu berücksichtigen (BGH NJW 10, 2050, Rz 23 [Würdigung aller Umstände]; Huber FS Schlechtriem 521 ff; Jauernig/Stadler § 275 Rz 26). Die sich aus der Gegenüberstellung von Kosten und Interesse ergebende zahlenmäßige Differenz allein ist nicht ausreichend (BGH NJW 10, 2050 [BGH 21.04.2010 - VIII ZR 131/09], Rz 23). So kann § 275 II etwa nicht dazu führen, dass im Falle der objektiven Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers die Unzumutbarkeit einer leidensgerechten Beschäftigung für den Arbeitgeber die Regeln und Wertungen des Kündigungsschutzrechtes für die krankheitsbedingte Kündigung unterläuft (s LAG Hamm 20.12.05 – 19 Sa 1375/05 Rz 64, nv (juris) [§ 275 II jedoch übersehen]). Widerspricht ein Gebäude nachbarschützenden Brandschutzvorschriften, überwiegt das Interesse der Nachbarn an der Beseitigung der Störung das Interesse des Schuldners auch bei hohen Beseitigungskosten (BGH NZM 20, 811 [BGH 13.12.2019 - V ZR 152/18]).
Rn 24
Die Unzumutbarkeit ist va eine Frage des Einzelfalls, daher sind erste Faustformeln (etwa Jauernig/Stadler § 275 Rz 26 sowie Huber/Faust 50 [jeweils 110–150 % des Erfüllungsinteresses]; Grüneberg/Grüneberg § 275 Rz 28 [Wert der Sache; strenger bei Mietverträgen]) mit praktischen Gefahren verbunden. Ein Umkehrschluss aus § 275 II 2 zeigt, dass der Schuldner generell also unabhängig vom Vertretenmüssen Aufwand zur Überwindung von Hindernissen treiben muss; die Frage der Einseitigkeit bestehender Erfüllungsansprüche ist insoweit ohne Belang (aA Huber FS Schlechtriem 521, 552; Grüneberg/Grüneberg § 275 Rz 28). Erfordert die Überwindung des Hindernisses Vertragsabschlüsse mit Dritten, welche – insbes wegen des Preises – an § 138 scheitern, greift nicht § 275 II, sondern § 275 I (s Rn 13).
Rn 25
Nach § 275 II 2 hängt die Beurteilung des Missverhältnisses auch davon ab, ob der Schuldner das die Zumutbarkeit tangierende Hindernis zu vertreten hat; ist dies der Fall, können von ihm grds höhere Anstrengungen erwartet werden als im F...