Rn 1
Die Verletzung einer Pflicht des Schuldners löst Schadensersatzansprüche nur aus, wenn er die Pflichtverletzung – respective den Umstand, der sie verursacht hat – zu verantworten hat. Das deutsche Zivilrecht verwendet für diese Verantwortung zumeist den Begriff Vertretenmüssen. Nach neuem Schuldrecht ist dieser Topos weitgehend auf Schadensersatzansprüche beschränkt: § 280 I 2. Zusätzlich wird er etwa in §§ 275 II 2, 286 IV, 309 Nr 8 lit a, 536a I Var 2 in Bezug genommen, nicht hingegen in §§ 323 VI, 326 II 1 (unrichtig daher BAG BeckRS 15, 71456 Rz 29; weitere Vorschriften finden sich außerhalb des BGB etwa in § 7 II EFZG, nicht aber in § 3 I 1 EFZG (BAG AP § 3 EntgeltFG Nr 31 Rz 14) und in § 24 II SGB IV [BSG DStR 19, 1165]). § 276 I 1 ist die zentrale Norm für das Vertretenmüssen. Daraus ergibt sich, dass das Gesetz hier gleichsam eine Variable setzt: Dem Vertretenmüssen können verschiedene Werte zugewiesen werden, wobei § 276 I 1 zugleich bestimmt, dass der Schuldner regelmäßig – sozusagen als Standardwert – Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten hat. Bezugspunkt der Verantwortung des Schuldners ist die Pflichtverletzung. Unschädlich ist, dass diese dem Vertretenmüssen vorausgeht (s § 280 Rn 20, § 281 Rn 4). Allenfalls ausnahmsweise spielt dabei die Art der Pflichtverletzung noch eine Rolle; zu § 311a II 2 s.u. Rn 17, Rn 37. Zur Beweislastverteilung s § 280 Rn 24–26. § 276 ist über § 87a III 2 HGB Umsetzungsnorm der Handelsvertreterrichtlinie sowie über §§ 280 I 2, 286 IV Umsetzungsnorm der ZahlungsverzugsRL.
Rn 2
§ 276 gilt lediglich für die Bewertung von Verhalten in Schuldverhältnissen, also auch für solche im Umfeld der Vertragsanbahnung nach § 311 II, III. Für das Deliktsrecht gilt die Vorschrift nicht (Jauernig/Stadler § 276 Rz 4), weil durch das Delikt das Schuldverhältnis erst entsteht. Soweit zur Bestimmung der Begriffe Vorsatz und Fahrlässigkeit oder der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (s §§ 823 I, 826, 831 I 2, 833 2, 834 2, 836 I 2, II, 839, 839a und die Kommentierungen dazu) auf § 276 verwiesen wird (s § 823 Rn 19), ist dies mit großer Vorsicht zu behandeln: Die Basis der Haftung aus dem Schuldverhältnis ist – va beim Vertrag – eine gänzlich andere als diejenige des Deliktsrechts. Eine Anwendung in öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen ist möglich, sofern das mit deren Eigenart zu vereinbaren ist (BGHZ 61, 7, 11; BGHZ 135, 341, 346).
Rn 3
In der Rechtslehre wird als Kern der Regelung des § 276 vielfach das sog Verschuldensprinzip angesprochen und zugleich die Haftung wegen Pflichtverletzung in Zusammenhang mit der Frage gebracht, ob diese dem Schuldner vorzuwerfen sei (NK/Dauner-Lieb § 276 Rz 2; Deutsch AcP 202 [02] 889, 892 f; vgl BGHZ 119, 152, 168; BGH NJW 06, 47, 49 Rz 30). Das ist unrichtig: Die Haftung wegen Verletzung einer vertraglichen Pflicht ist nicht mit einem persönlichen Vorwurf gegen den Haftenden verbunden noch von einem solchen Vorwurf abhängig (Schlechtriem/Schmidt-Kessel Schuldrecht AT Rz 564). Nur die fehlende Verschuldensfähigkeit schließt nach §§ 276 I 2, 827, 828 die Verantwortlichkeit aus (s.u. Rn 16). IÜ richtet sich das Vertretenmüssen ausschl nach objektiven Maßstäben; das gilt insbes für die Konkretisierung der Fahrlässigkeit nach § 276 II. Die gelegentlich zusätzlich geforderte ›innere‹ Sorgfalt handelt letztlich nur von der – wiederum an objektiven Standards zu messenden – Vergewisserung über die eigene Leistungsfähigkeit, beschreibt also lediglich einen Unterfall des allgemeinen Sorgfaltsverstoßes (Schlechtriem/Schmidt-Kessel Schuldrecht AT Rz 565). Zur Abgrenzung des Vertretenmüssens von der Pflichtverletzung s § 280 Rn 22.
Rn 4
Tlw wird in der Literatur die Rechtswidrigkeit des schuldnerischen Verhaltens als eigenständige Voraussetzung der Haftung angesehen (etwa Nipperdey NJW 57, 1780; Schapp JZ 01, 583, 585). Der vertragsbrüchige Teil verletzt jedoch nicht die Rechtsordnung, sondern die individuelle Vertragsordnung. Soweit die Rechtswidrigkeit mit der Pflichtwidrigkeit gleichgesetzt wird (etwa Jauernig/Stadler § 276 Rz 13) besteht die Gefahr eines Missverständnisses, weil diese nicht Teil des Vertretenmüssens, sondern dessen Bezugspunkt ist. Eine gesonderte Rechtswidrigkeit als Haftungsvoraussetzung fordert das Vertragsrecht daneben nicht. Dasselbe gilt richtigerweise auch für das Deliktsrecht (v Bar Gemeineuropäisches Deliktsrecht II 234 ff; vgl § 823 Rn 10 ff) jedoch nicht für die Haftung nach § 839. Für das Vertragsrecht lässt sich erst recht nicht generell der Lehre vom Verhaltensunrecht oder der Lehre vom Erfolgsunrecht folgen; ob das Fehlverhalten allein oder erst der fehlende Erfolg die Vertragshaftung auslöst, hängt von der jeweiligen Pflicht ab, ob es sich nämlich um eine Erfolgspflicht (obligation de résultat) oder um eine Verhaltenspflicht (obligation de moyens) handelt (s § 241 Rn 10–13).