Prof. Dr. Brigitta Zöchling-Jud
Gesetzestext
Der Gläubiger kommt in Verzug, wenn er die ihm angebotene Leistung nicht annimmt.
A. Allgemeines.
Rn 1
Der Gläubigerverzug ist das Gegenstück zum Schuldnerverzug (§§ 286 ff), erfordert jedoch kein Verschulden des Gläubigers (BGH MDR 10, 1210). Er tritt ein, wenn der Gläubiger die seinerseits erforderliche Mitwirkung an der Erfüllung des Schuldverhältnisses unterlässt. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn der Gläubiger die ihm angebotene Leistung nicht annimmt, sondern auch, wenn er die Erfüllung einer sonstigen Leistungspflicht des Schuldners vereitelt (Grüneberg/Grüneberg § 293 Rz 1). Die §§ 293 ff finden daher grds auch auf sachen-, familien- und erbrechtliche Ansprüche Anwendung (Grüneberg/Grüneberg § 293 Rz 2), auf Grund der Verweisung in § 62 S 2 VwVfG auf Ansprüche aus öffentlich-rechtlichen Verträgen und modifizieren die Regeln des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses, wenn der Eigentümer die ordnungsgemäß angebotene Sache nicht zurücknimmt (AnwK/Schmidt-Kessel § 293 Rz 3). Die Regeln des Gläubigerverzugs umfassen daher sämtliche Mitwirkungspflichten des Gläubigers, wie zB die Ausübung des Wahlrechts nach § 262, die Abgabe der Erklärung nach § 315 II (BGH NJW 02, 3541 [BGH 04.07.2002 - I ZR 313/99]), die Spezifikation nach § 375 HGB (RGZ 43, 103) oder die Vornahme von Vorbereitungshandlungen, wie zB die Bereitstellung von Transporthilfsmitteln (RG JW 1904, 168), der zu bearbeitenden Stoffe (Stuttg NJW 47/48, 565) oder auch das Zugänglichmachen des Leistungsorts (weitere Bsp bei AnwK/Schmidt-Kessel § 293 Rz 13). Bedarf der Schuldner keiner Mitwirkung oder Kooperation des Gläubigers, wie zB bei Unterlassungspflichten oder Pflichten, die auf die Abgabe einer Willenserklärung gerichtet sind, spielen die Regeln des Gläubigerverzugs hingegen keine praktische Rolle (AnwK/Schmidt-Kessel § 293 Rz 4).
Rn 2
Nach hM ist der Gläubiger zur Annahme der Leistung nur berechtigt, nicht aber verpflichtet (BGH NJW-RR 88, 1265 [BGH 10.05.1988 - IX ZR 175/87]; Grüneberg/Grüneberg § 293 Rz 1). Der Gläubigerverzug stellt daher grds keine Verletzung einer Rechtspflicht, sondern bloß den Verstoß gegen eine Obliegenheit dar (R. Schmidt Obliegenheiten 146 ff; Grüneberg/Grüneberg § 293 Rz 1; differenzierend AnwK/Schmidt-Kessel § 293 Rz 2, der von Pflichten mit beschränktem Schutzzweck spricht), begründet daher auch keine Schadensersatzpflicht, setzt umgekehrt aber auch kein Vertretenmüssen voraus (AnwK/Schmidt-Kessel § 293 Rz 15f). Anderes gilt aber dann, wenn das Gesetz oder die Vereinbarung die Annahme der Leistung durch den Gläubiger oder seine Mitwirkung als echte Rechtspflicht ausgestalten, wie dies zB nach den §§ 433 II oder 640 I für den Kauf- und Werkvertrag der Fall ist. Der Gläubiger kommt in diesen Fällen zugleich auch in Schuldnerverzug, der unter den Voraussetzungen des § 280 auch schadensersatzrechtlich sanktioniert ist (Grüneberg/Grüneberg § 293 Rz 6 f mwN).
B. Voraussetzungen.
Rn 3
Die Voraussetzungen des Gläubigerverzugs sind in den §§ 293–299 geregelt. Der Gläubiger gerät demnach nur in Verzug, wenn der Schuldner die Leistung tatsächlich so anbietet, wie sie zu bewirken ist (§ 294), der Schuldner zur Leistung imstande (§ 297) und auch berechtigt ist. Bedarf es daher für die Leistung zB einer öffentlich-rechtlichen Genehmigung, setzt der Annahmeverzug voraus, dass die Genehmigung vorliegt (BGHZ 13, 329; NJW 52, 743; Grüneberg/Grüneberg § 293 Rz 8).
Rn 4
Da der Gläubigerverzug die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit des Schuldners voraussetzt, schließen Unmöglichkeit der Leistung (§ 275 I) und Unvermögen des Schuldners den Gläubigerverzug grds aus (BGHZ 24, 96; LAG Mecklenburg-Vorpommern FD-ArbR 20, 432578; Grüneberg/Grüneberg § 293 Rz 3; aA Schmidt-Kessel Gläubigerfehlverhalten § 7 II 1b; Dötterl Unmöglichkeit 100, 107 ff; vgl schon Picker JZ 79, 292 ff). Fraglich ist aber, welche Fälle dem Gläubigerverzug und welche der Unmöglichkeit zuzuordnen sind. Nach heute hM ist für die Abgrenzung von Unmöglichkeit und Annahmeverzug darauf abzustellen, ob die Leistung noch erbracht werden kann. Annahmeverzug liegt vor, wenn der Gläubiger die Leistung nicht annehmen kann oder will, Unmöglichkeit, wenn der Leistung ein dauerndes Hindernis entgegensteht (BGHZ 60, 17; Beuthien Zweckerreichung 230 ff; Grüneberg/Grüneberg § 293 Rz 5; Staud/Feldmann vor § 293 Rz 5 ff; MüKoBGB/Ernst § 293 Rz 9 f; Erman/Hager Vorbem § 293 Rz 5). Beim Arbeitsvertrag grenzt die Rspr nach der Sphärentheorie ab und stellt darauf ab, in wessen Gefahrenkreis die Störungsursache liegt (RGZ 106, 275; § 615 Rn 10 ff).
C. Rechtsfolgen.
Rn 5
Die Rechtsfolgen des Gläubigerverzugs werden zunächst in den §§ 300 ff geregelt, bestehen also in der Haftungsminderung und dem Gefahrenübergang bei Gattungsschulden (§ 300), dem Wegfall der Verzinsungspflicht (§ 301), der Beschränkung der Verpflichtung zur Nutzungsherausgabe (§ 302), dem Recht zur Besitzaufgabe bei Grundstücken oder eingetragenen Schiffen oder Schiffsbauwerken (§ 303) und dem Anspruch des Schuldners auf Ersatz von Mehraufwendungen (§ 304). Darüber hinaus steh...