Prof. Dr. Klaus Peter Berger
1. Grundsatz.
Rn 16
Die Unklarheitenregel des II kommt nicht zur Anwendung, wenn eine Klausel eindeutig und damit nicht auslegungsbedürftig ist (BGH NJW-RR 04, 1247 [BGH 17.06.2004 - VII ZR 25/03]). In sonstigen Fällen kommt II erst dann zur Anwendung, wenn nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten (Rn 11) ein nicht behebbarer Zweifel bleibt, so dass mindestens zwei Auslegungsergebnisse rechtlich vertretbar sind (BGH NJW-RR 19, 721 [BGH 19.12.2018 - VIII ZR 254/17] Rz 18; BAG NZA 23, 1524 Rz 24). Außer Betracht bleiben zwar theoretisch denkbare, praktisch aber fernliegende und nicht ernsthaft in Betracht zu ziehende Verständnismöglichkeiten (BGH NZI 23, 757 [BGH 27.07.2023 - IX ZR 267/20] Rz 28; BAG NZA 21, 1348 [BAG 02.06.2021 - 4 AZR 387/20] Rz 15). Wird einer Auslegung der Vorzug eingeräumt, weil sie weitaus näherliegt als eine andere, dann ist diese der Inhaltskontrolle zugrunde zu legen (BGH NJW 93, 658 [BGH 20.10.1992 - X ZR 74/91]; 23, 2430 [BGH 31.05.2023 - IV ZR 58/22] Rz 19). Widersprechen mehrere Klauseln einander, gilt dagegen § 307 I 2 (BAG NZA 21, 783 [BAG 23.03.2021 - 3 AZR 99/20] Rz 26). Die Unklarheitenregel gilt auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr (BGH NJW-RR 88, 113 [BGH 29.09.1987 - VI ZR 70/87]). Ist die Klausel nicht nur auslegungsbedürftig, sondern intransparent, kommt sowohl die Nichteinbeziehung nach § 305 II Nr 2 (s § 305 Rn 23) als auch die Unwirksamkeit nach § 307 I 2 (s § 307 Rn 13) in Betracht (Grüneberg/Grüneberg § 305c Rz 15). Führt die Einbeziehung mehrerer Klauseln in ein und denselben Vertrag dazu, dass auch nach Auslegung unklar ist, welche der darin enthaltenen konkurrierenden Klauseln gelten sollen, kann keine dieser Bestimmungen angewendet werden, so dass die gesetzlichen Vorschriften zur Anwendung kommen (BGH NJW-RR 06, 1350 [BGH 16.03.2006 - I ZR 65/03]); für den Vorrang der für den Verwender ungünstigeren Klausel BGH NZI 23, 757 [BGH 27.07.2023 - IX ZR 267/20] Rz 29. Auf dynamische Verweise in Arbeitsverträgen auf das jeweils gültige Tarifrecht findet II keine Anwendung (BAG ZIP 09, 2076).
2. Rechtsfolge.
Rn 17
Ist eine Klausel mehrdeutig (Rn 16), so ist sie ›zu Lasten des Verwenders‹ iSv II ausgelegt, wenn die kundenfeindlichste Alternative gewählt wird, also die, die am ehesten gegen die §§ 307 ff verstößt. Sie ist die für den Kunden günstigste Alternative. Dies ist für den Verbandsprozess nach §§ 1, 3 UKlaG allg anerkannt (BGH NJW 08, 2495 Rz 20; ZIP 20, 2068 Rz 28). Im Hinblick auf den Schutzzweck von II und das Interesse einheitlicher Auslegungsergebnisse ist von diesem Ansatz der kundenfeindlichsten Auslegung auch im Individualprozess auszugehen (BGHZ 176, 244 Rz 19; BGH NJW 23, 1356 [BGH 19.01.2023 - VII ZR 34/20] Rz 30; Grüneberg/Grüneberg § 305c Rz 18). Sind alle denkbaren Alternativen nach §§ 307 ff wirksam, so ist von derjenigen auszugehen, die den Kunden am meisten begünstigt (W/L/P/Lindacher/Hau § 305c Rz 133; MüKo/Fornasier § 305c Rz 52).
Rn 18
Die Anwendung der so verstandenen Unklarheitenregel im Individualprozess muss dazu führen, den Grundsatz der restriktiven Auslegung von den Kunden belastenden Bestimmungen wie Freizeichnungsklauseln oder Gewährleistungsausschlüssen (BGHZ 62, 251; NJW 86, 2757) aufzugeben. Die restriktive Auslegung verstellt den Blick auf die kundenfeindlichste Auslegung und gerät zudem mit dem Verbot der geltungserhaltenden Reduktion (§ 306 Rn 4) in Konflikt (HP/H. Schmidt § 305c Rz 62; Sambuc NJW 81, 315).
3. Beispiele.
Rn 19
Unklar +, nicht –: ›gekauft wie besichtigt‹ (–BGH NJW 79, 1886 [BGH 11.06.1979 - VIII ZR 224/78]); ›zahlbar sofort netto ohne Abzug‹ (–Celle NJW-RR 93, 1334); ›soweit gesetzlich zulässig‹ (– Roth WM 91, 2087); Haftung für Fahrtleistung im gewerbl Gebrauchtwagenverkauf, ›soweit ihm bekannt‹ (+BGH NJW 98, 2207 [BGH 13.05.1998 - VIII ZR 292/97]; –Köln NJW 99, 2601 [OLG Köln 09.12.1998 - 13 U 102/98] bei privatem Verkauf aus zweiter Hand); Darlehen gegen Stellen einer Bankbürgschaft als Vertragspflicht oder aufschiebende Bedingung (+BGH NJW-RR 97, 304 [BGH 16.10.1996 - VIII ZR 54/96]); Hinweis auf nicht existierende ›Widerrufsmöglichkeit‹ (+BGH NJW 82, 2313 [BGH 30.06.1982 - VIII ZR 115/81]); Fehlerfreiheit ›während eines Jahres seit Auslieferung‹ (+BGH NJW 96, 2504); abgetretene Rechte als ›weitere Sicherheiten‹ in Grundschuldzweckerklärung (+BGHZ 110, 113); ›Mietraumfläche‹-Klausel in Wohnraummietvertrag (+BGH NJW 10, 293); Umfang einer Mietgarantie bei Bauherrenmodell (+Celle NJW-RR 88, 119 [OLG Celle 09.07.1987 - 14 U 227/86]); Umfang der Versicherungsdeckung (+BGH NJW-RR 96, 857 [BGH 06.03.1996 - IV ZR 275/95]); Ausschluss von EAG und EKG einerseits und CISG andererseits (+München IHR 07, 30); Unterrichtungspflichten bei Mängelbeseitigung an fabrikneuem Kfz (+BGH BB 07, 234 [BGH 15.11.2006 - VIII ZR 166/06]); Gerichtsstandsklausel bzgl Zulässigkeit eines Schiedsgerichts (+BGH NJW-RR 07, 1719 [BGH 25.01.2007 - VII ZR 105/06]); ›Abrechnungssumme‹ im unternehmerischen Verkehr ohne Klarstellung, ob netto oder brutto (+BGH ...