Prof. Dr. Klaus Peter Berger
1. Gang der Prüfung.
Rn 22
Nr 2 lässt sich kaum trennscharf von Nr 1 abgrenzen. Die Einschränkung wesentlicher Rechte und Pflichten ist fast immer auch mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung unvereinbar. Auch hier ist eine umfassende Abwägung der beiderseitigen Interessen vorzunehmen (BGHZ 155, 137), wobei die Prüfung in drei Schritten durchzuführen ist.
Rn 23
Die Natur des Vertrages wird zunächst durch die gesetzlich geregelten oder von der Rspr herausgearbeiteten, Zweck und Inhalt des Vertrages bestimmenden Leistungspflichten der Parteien gekennzeichnet. Zusätzlich ist der durch verkehrsübliche Klauselpraxis bzw die Verkehrsanschauung und Handelsbräuche und die konkreten Vereinbarungen der Parteien bestimmte, berechtigte Erwartungshorizont des objektiven Durchschnittskunden (s Rn 9) zu berücksichtigen (Grüneberg/Grüneberg § 307 Rz 34).
Rn 24
Wesentliche, sich aus dem so ermittelten Vertragszweck ergebende Rechte und Pflichten werden ausgehöhlt, wenn dem Vertragspartner Rechtspositionen genommen oder eingeschränkt werden, die ihm der Vertrag nach seinem Inhalt und Zweck zu gewähren hat und auf deren Gewährung er daher berechtigterweise vertraut (BGHZ 103, 324; 89, 367). Dabei geht es nicht nur um die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Hauptpflichten des Verwenders (BGH NJW 02, 673 [BGH 24.10.2001 - VIII ARZ 1/01]; s zu ›Kardinalpflichten‹ Rn 26), sondern auch um Nebenpflichten, die für den Schutz des Vertragspartners (Person, Vermögen) von grundl Bedeutung sind oder deren Erfüllung die ordnungsgemäße Vertragsdurchführung erst möglich macht (mit denen der Vertrag ›steht und fällt‹), auf deren Einhaltung der Vertragspartner also berechtigterweise vertrauen durfte (BGH NJW 93, 335 [BGH 11.11.1992 - VIII ZR 238/91]; 88, 1785 [BGH 03.03.1988 - X ZR 54/86]; Grüneberg/Grüneberg § 307 Rz 35).
Rn 25
Die Aushöhlung ist aber nur relevant, wenn durch sie im Einzelfall die Erreichung des Vertragszwecks auch tatsächlich gefährdet wird (BGHZ 103, 324; BB 84, 1449). Gefährdung bedeutet weniger als die totale Vereitelung des Vertragszwecks (HP/H. Schmidt § 307 Rz 69). Wie bei I (s Rn 10) können unbedenkliche Klauseln die Gefährdung durch eine Klausel kompensieren (Stoffels Rz 548).
2. Kardinalpflichten; Haftungsfreizeichnung.
Rn 26
Nr 2 hat va für die Freizeichnung von Kardinalpflichten große Bedeutung. So ist eine formularmäßige Freizeichnung von der Haftung für einfache Fahrlässigkeit des Klauselverwenders zwar gem § 309 Nr 7 nicht grds ausgeschlossen (s § 309 Rn 44). Sie darf jedoch nicht zur Aushöhlung von vertragswesentlichen Rechtspositionen des Vertragspartners führen (BGH NJW-RR 05, 1505 [BGH 20.07.2005 - VIII ZR 121/04]). Für die formularmäßige Begrenzung der Haftung gilt dies in gleichem Maße. Eine Haftungsfreizeichnung oder -beschränkung ist daher regelmäßig dann nach Nr 2 unwirksam, wenn sie sich auch auf vertragstypische, vorhersehbare Schäden, die aus der Verletzung vertragswesentlicher Pflichten entstehen, erstreckt (vgl BGH NJW 01, 302; 93, 335, auch bei summenmäßiger Haftungsbegrenzung, BGHZ 138, 133; NJW 01, 295) oder wenn der Verwender in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch genommen hat (BGH NJW-RR 86, 272 [BGH 20.12.1984 - VII ZR 340/83]). Zum Zusammenhang von Haftungsfreizeichnung und Versicherbarkeit des Risikos s Rn 10 sowie BGHZ 103, 326; 77, 133; NJW-RR 98, 1426. Zum Reisevertrag s § 651p.
Rn 27
Im Kaufrecht stellt der Anspruch auf mangelfreie Leistung nach § 433 I 2 eine Kardinalpflicht dar (Arnold ZGS 04, 20; Pfeiffer ZGS 02, 177; v Westphalen BB 02, 214; vgl auch BGH NJW 01, 302). Die Haftung für Mangel- und Mangelfolgeschäden kann daher ebenso wie die Haftung für nicht fristgerechte Lieferung (BGH NJW 94, 1063 [BGH 12.01.1994 - VIII ZR 165/92]) auch bei einfacher Fahrlässigkeit nicht vollständig ausgeschlossen, sondern nur auf die Haftung für voraussehbare, vertragstypische Schäden beschränkt werden (Arnold ZGS 04, 20; str, großzügiger Litzenburger NJW 02, 1245; Fliegner AnwBl 01, 677). Für den Verbrauchsgüterkauf sind nach § 476 I ohnehin die wesentlichen Bestimmungen zwingender Natur (s § 476 Rn 1) und bestimmte Käuferrechte nach § 309 Nr 7 und 8b nicht abdingbar, s § 309 Rn 39 ff, 52 ff.
3. Beispiele.
Rn 28
Haftungsausschlüsse und -begrenzungen (s Rn 26) (unvereinbar +, nicht –): Vermieterhaftung für mängelbedingte Schäden des Mieters (+BGH NJW 02, 673 [BGH 24.10.2001 - VIII ARZ 1/01]); Klausel zur Fernabschaltung einer Autobatterie durch Vermieter (+BGH NJW 22, 3575 [BGH 26.10.2022 - XII ZR 89/21]); Desinfektion eingebrachter Sachen im Krankenhausvertrag (+BGH NJW 90, 764 [BGH 09.11.1989 - IX ZR 269/87]); Haftung für Konstruktionsfehler (+BGH NJW 71, 1797); Haftung für Produktionsausfall gleich aus welchem Rechtsgrund (+BGH NJW-RR 01, 342 [BGH 14.11.2000 - X ZR 211/98]); fristgerechte Lieferung des Verkäufers (+BGH NJW 94, 1062 [BGH 12.01.1994 - VIII ZR 165/92]); Internet-Flatrate mit volumenabhängiger Geschwindigkeitsbegrenzung (+LG Köln K&R 13, 813); grundl Organisationsmängel (+BGH NJW 73, 2154 [BGH 13.07.1973 - I ZR 72/72]); Haftung für ...