Prof. Dr. Michael Stürner
Rn 5
Über den Gesetzeswortlaut hinaus wird aber in I auch das Prinzip der im Schuldrecht herrschenden Vertragsfreiheit gefunden: Der Vertrag soll also für Entstehung oder Änderung eines Schuldverhältnisses nicht nur notwendig, sondern auch ausreichend sein. Diese Regel umfasst mehrere wichtige Einzelregeln, die freilich alle nicht ohne weitreichende Ausnahmen gelten.
1. Die Abschlussfreiheit.
a) Inhalt.
Rn 6
Jeder kann frei bestimmen, ob er überhaupt einen Vertrag schließen will. Diese Freiheit wird zwar faktisch durch viele Bedürfnisse eingeschränkt, die legal (also außer durch Delikt) nur durch Vertrag befriedigt werden können. Trotzdem bringt die Abschlussfreiheit weithin den Vorteil vielfacher Wahlmöglichkeiten; sie trägt daher zur Entfaltung der Persönlichkeit (Art 2 I GG) bei.
b) Kontrahierungszwang.
Rn 7
Den Gegensatz zur Abschlussfreiheit bildet der Kontrahierungszwang. Er kann va auf Rechtsgeschäft oder auf Gesetz beruhen.
Rn 8
Der wichtigste Kontrahierungszwang durch Rechtsgeschäft liegt in der Einräumung einer Option: Diese berechtigt den anderen Teil, durch einseitige Willenserklärung einen Vertrag mit dem Optionsgeber zustande zu bringen. Dabei kann man die Verkaufsoption (Put-Option) und die Ankaufsoption (Call-Option) unterscheiden (Einzelh Vor § 145 Rn 33 ff). Doch ist dieses einseitige Gestaltungsrecht durch die Abschlussfreiheit des Optionsgebers insoweit gedeckt, als ja die Einräumung des Optionsrechts frei war.
Rn 9
Ähnl liegt es beim Vorkaufsrecht: Dieses kann zwar einseitig ausgeübt werden, sobald der Verpflichtete einen Kaufvertrag mit einem Dritten abgeschlossen hat (§§ 463 ff, dort auch zu den Einzelheiten). Aber die Abschlussfreiheit besteht hier sowohl bei der Einräumung des Vorkaufsrechts wie auch beim Abschluss des Vertrages mit dem Dritten. Die erste Freiheit fehlt zwar beim gesetzlichen Vorkaufsrecht (etwa nach §§ 577, 2034f); frei bleibt aber auch hier der Verkauf an einen Dritten.
Rn 10
Der Kontrahierungszwang kraft Gesetzes greift immer weiter um sich. Zunächst war er bei Versorgungsleistungen zum Ausgleich von Monopolstellungen auf der Anbieterseite gedacht (Eisenbahn § 453 HGB aF mit §§ 3, 9 EVO; Post § 8 PostG; Energieversorgung § 17 EnWG, auch §§ 2, 3 StromeinspeisungsG; Personenbeförderung § 22 PBefG; Güterverkehr §§ 13a IV 3, 90 I 3 GüKG; Luftverkehr § 21 II LuftVG, Pflegeversicherung § 110 I SGB XI). Unabhängig von Versorgungsleistungen sind die §§ 15 PatG, 5 PflVersG. S zum Ganzen Busche Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 99; Majer JR 15, 107.
Rn 11
Dazu kommen allg Regeln, die auf einen Kontrahierungszwang hinauslaufen. Die Allgemeinste ist § 826 iVm § 249 I (vgl § 826 Rn 24): Die Abschlussverweigerung kann eine sittenwidrige Schädigung darstellen, so dass der Verweigernde als Naturalrestitution den Abschluss schuldet. § 20 GWB verbietet eine Diskriminierung durch Marktbeherrschende und ähnliche Unternehmen; § 33 GWB verpflichtet bei Verstößen zum Schadensersatz und damit uU zum Abschluss nichtdiskriminierender Verträge. Zum Kontrahierungszwang auf der Grundlage des AGG unten Rn 13; zur cic unten Rn 55.
Rn 12
Viele Fallgruppen dagegen stehen im Grenzbereich des § 826. So soll die Tagespresse Anzeigen politischen Inhalts nicht zu veröffentlichen brauchen (BVerfG 42, 53, 62). Anderes mag aber für tendenzfreie Anzeigen zumal dann gelten, wenn die Zeitung ein lokales Monopol hat (Erman/Armbrüster Vor § 145 Rz 30). Eine Sparkasse (BGH NJW 03, 1638) und die Postbank (BGH NJW 04, 1031 [BGH 02.12.2003 - XI ZR 397/02]; Dresden NJW 01, 1433 [OLG Dresden 16.11.2000 - 14 W 1754/00]) dürfen den Girovertrag mit einer politischen Partei nicht deshalb kündigen, weil diese verfassungsfeindliche Ziele verfolge. Ein Girovertrag darf aber nach Nr 19 Abs 1 AGB-Banken 2002 grds ohne Interessenabwägung gekündigt werden (BGH NJW 13, 1519 [BGH 15.01.2013 - XI ZR 22/12]; s.a. § 675h). Umstr ist die Pflicht von Kreditinstituten zur Eröffnung eines Girokontos auf Guthabenbasis für Arbeitslose (mit guten Gründen bejahend Kohte FS Derleder [05], 405). Auch dürfte es unzulässig sein, einen missliebigen Kritiker vom Theaterbesuch auszuschließen (anders RGZ 133, 388), schon weil dessen Berufsausübung (Art 12 GG) in Frage steht und die Theater überwiegend erhebliche Subventionen aus Steuergeldern erhalten. Ob außerhalb des AGG die grundlose Vorenthaltung auch weniger wichtiger Leistungen unzulässig ist, hat der BGH mehrfach offen gelassen (NJW 90, 761, 763; ZIP 94, 1274, 1276).
c) Das AGG.
Rn 13
Dieses G kann zu einem Kontrahierungszwang unter dem Gesichtspunkt einer Folgenbeseitigung führen (Thüsing/von Hoff NJW 07, 21). Sachlich betrifft es va das Arbeitsrecht, wo ja die Abschluss- (und Inhalts-)freiheit durch die (jetzt vom AGG ersetzten) §§ 611a, 611b, 612 III aF schon vorher stark eingeschränkt war. Doch stehen va in den §§ 1 bis 3, 19 bis 22 AGG auch das Zivilrecht betreffende Vorschriften. Näher § 1 AGG Rn 11.
Rn 14
Dazu sei hier nur bemerkt: Von den in Rn 12 genannten Fallgruppen wird durch das AGG wohl keine einzige wirklich zweifelsfrei erfasst. Denn die Merkmale...