Prof. Dr. Michael Stürner
I. Vertragsgrundlage.
Rn 8
Geschäftsgrundlage sind nach einer immer wieder verwendeten Formulierung die bei Vertragsschluss bestehenden gemeinsamen Vorstellungen beider Parteien oder die dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf dieser Vorstellung aufbaut (BGH NJW 17, 2191 Rz 18; NJW 15, 1523 Rz 32; NJW 10, 1663 Rz 17; BGHZ 182, 218 Rz 24). Die Umstände, die sich verändert haben, müssen nach I zur Grundlage des Vertrages geworden sein. Gleiches gilt nach II für die ›wesentlichen Vorstellungen‹, die sich als falsch herausstellen (zu Unterschieden in der Auslegung von I und II Teichmann GS M. Wolf 11, 169).
Rn 9
Negativ bedeutet das, dass die wesentlichen Umstände nicht Vertragsinhalt geworden sein dürfen (etwa als Bedingung nach § 158). Denn dann enthält der Vertrag selbst die maßgebliche Regelung, und ein Rückgriff auf § 313 ist unnötig (BGH ZIP 91, 1599, 1600; BGH NJW-RR 11, 886, 887). So ist die Preisgebundenheit einer Wohnung nicht Vertragsinhalt, da sie nicht der Parteidisposition unterliegt, wohl aber möglicherweise Geschäftsgrundlage (BGH NJW 10, 1663, 1664 [BGH 24.03.2010 - VIII ZR 160/09]; NZM 07, 283 [BGH 07.02.2007 - VIII ZR 122/05]). Das gilt auch, wenn eine solche Regelung erst durch ergänzende Vertragsauslegung gewonnen werden kann (BGHZ 81, 135, 143 ›Roggenklausel‹). Allerdings sind die Grenzen fließend, wenn die Vertragsauslegung nur zu einem hypothetischen Parteiwillen führt (BGHZ 90, 69, 74 ff ›Tagespreisklausel‹). Zurückhaltend bleibt BGHZ 84, 361, 368 beim Scheitern einer Ehe: Hierfür werde bei der Heirat idR kein Wille gebildet, so dass statt einer Auslegung nur ein Wegfall der Geschäftsgrundlage in Betracht komme (u. Rn 34 ff). Für die nichteheliche Lebensgemeinschaft jetzt viel elastischer BGH NJW 08, 3277 [BGH 09.07.2008 - XII ZR 179/05] (zur Rückabwicklung nach Bereicherungsrecht Sorge JZ 11, 660). Zum Leasingvertrag BGH NJW 14, 1583 [BGH 13.11.2013 - VIII ZR 257/12] Rz 15 mN; Rolland FS Medicus [09], 353, 364 ff; Loyal NJW 13, 417. Ein gemeinsamer Irrtum der Mietvertragsparteien über den Fortbestand des Mietverhältnisses kann Geschäftsgrundlage sein (BGH NJW-RR 21, 84 [BGH 11.11.2020 - VIII ZR 191/18]).
Rn 10
Ein weiterer Vorrang des Vertrages ergibt sich nach I aus der vertraglichen Risikoverteilung (u. Rn 17).
Rn 11
Positiv fordert § 313 für die Bejahung eines Umstandes als Geschäftsgrundlage: Dieser müsse für die Parteien so wichtig gewesen sein, dass sie bei Kenntnis oder Voraussicht des Wegfalls oder des Fehlens den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten. Zur Geschäftsgrundlage gehören also nur solche Umstände, die nach den Vorstellungen der Parteien für Abschluss oder Inhalt des Vertrages kausal geworden sind.
Rn 12
Allerdings begünstigt der in seiner Grundlage gestörte Vertrag oft eine Partei (zB eine Geldentwertung den Kreditnehmer oder den Mieter). Daher mag diese den ihr günstigen oder günstig gewordenen Vertrag durchaus wie geschehen haben schließen wollen. Ein solcher einseitiger Wille muss aber unbeachtlich sein. Das ergibt sich entweder schon daraus, dass für den Vertragsschluss die Übereinstimmung beider Parteien nötig ist. Vielfach wird aber auch darauf abgestellt, wie die begünstigte Partei sich redlicherweise verhalten hätte. Das hängt insb davon ab, wie stark der unveränderte Vertrag die Gegenpartei benachteiligt.
II. Störung der Vertragsgrundlage.
Rn 13
Diese besteht bei I in einer ›schwerwiegenden Veränderung‹ nach Vertragsschluss und bei II darin, dass sich ›wesentliche Vorstellungen‹ als falsch herausstellen. Die Zusätze ›schwerwiegend‹ und ›wesentlich‹ bedeuten, dass nicht jede Veränderung genügt. Vielmehr muss sie dazu führen, dass der benachteiligten Partei ›das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann‹ (I aE). Die Rechtserheblichkeit der Störung wird also nach der Zumutbarkeit ihrer Folgen beurteilt. Die Änderung muss derart einschneidend sein, dass ›ein Festhalten an der ursprünglichen Regelung zu einem untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit nicht zu vereinbarenden Ergebnis führen würde‹ (stRspr, vgl BGHZ 121, 378, 393; BGH NJW 10, 1874, 1877 mwN). Eine drohende Existenzvernichtung ist dafür aber weder nötig noch allemal ausreichend (Medicus/Petersen AT Rz 871).
Rn 13a
Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie können für zahlreiche Verträge eine Grundlagenstörung bewirken (Behme ZfPW 20, 257; zu den COVID-19-Prinzipien des European Law Institute Wagner ZEuP 20, 531); so im Vertriebsrecht (Emde ZVertriebsR 20, 138; Thume BB 20, 1419), bei Lieferverträgen (Otte-Gräbener GWR 20, 147; Wagner/Holtz/Dötsch BB 20, 845) oder bei Beherbergungsverträgen (Köln MDR 21, 1121 [OLG Köln 14.05.2021 - 1 U 9/21] Rz 31 ff). Anders soll es bei Chefarztverträgen sein (Bender NZA 20, 1517), bei Fitnessstudioverträgen (Köhler ZJS 21, 108) oder bei Beförderungsverträgen im Zusammenhang mit Ausgangssperren (Meier/Ehmer NJOZ 21, 737);...