Prof. Dr. Michael Stürner
Rn 9
Ebenso wie bei der Frage nach der Vorleistungspflicht (Rn 6) kommt § 242 auch für die Ausübung des Einrederechts in Betracht. So kann etwa der Käufer die Zahlung des Kaufpreises gemäß I 1 ausnahmsweise nicht oder nicht vollständig verweigern, wenn dies nach den Gesamtumständen, insbesondere wegen verhältnismäßiger Geringfügigkeit der Pflichtverletzung des Verkäufers, gegen Treu und Glauben verstößt (BGHZ 180, 300 Rz 14; 206, 346 Rz 41; BGH ZIP 16, 2420 Rz 21; MDR 22, 357 Rz 18). Den Spezialfall der Unverhältnismäßigkeit nennt II: Bei einer Teilleistung kann die Gegenleistung insoweit nicht verweigert werden, als ein Verstoß gegen Treu und Glauben vorläge, insb wegen verhältnismäßiger Geringfügigkeit des noch rückständigen Teils (dazu Stürner Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldvertragsrecht 10, 236f). Konkrete Bewertungsmaßstäbe (etwa unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 641 III) lassen sich hierfür kaum aufstellen; vielmehr hat der Tatrichter den Umfang des Leistungsverweigerungsrechts aufgrund einer Gesamtwürdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben zu ermitteln (BGHZ 206, 1 Rz 59). Hieraus ergibt sich umgekehrt als Regel, dass auch nach einer Teilleistung noch die ganze Gegenleistung verweigert werden kann (vgl MüKo/Emmerich Rz 60 ff; so auch BGH ZIP 22, 1449 Rz 18). Aus dem Wortlaut von II (›insoweit‹) folgt aber, dass bei Unzulässigkeit einer Verweigerung der ganzen Gegenleistung eine verhältnismäßige Teilverweigerung zulässig sein soll.
Rn 10
Ganz unzulässig ist nach § 242 die Einrede, wenn die Verweigerung der Gegenleistung dem Gläubiger nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen würde. Das kommt insb bei Unterlassungspflichten in Betracht, wenn das Zuwiderhandeln (zB ein Geheimnisverrat) nicht wieder rückgängig gemacht werden kann (BGH WM 74, 369; BAG NJW 83, 2896, 2897 [BAG 05.10.1982 - 3 AZR 451/80]: ›§ 320 gewährt ein Zurückbehaltungsrecht, erlaubt es aber nicht, einen Anspruch unmöglich zu machen‹). Vereinzelt ist auch auf die besondere Lästigkeit für den Gläubiger abgestellt worden (Frankfurt MDR 85, 502, 503). Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Leistungsverweigerung den anderen Teil zur Gegenleistung veranlassen soll und daher einen gewissen Druck ausüben muss.
Rn 11
Keinen Ausschlusstatbestand stellt es dagegen dar, wenn sich der Schuldner hinsichtlich der Gegenleistung in Gläubigerverzug befindet (BGH BB 95, 1209 [BGH 10.04.1995 - VIII ZR 346/93] Rz 32; MüKo/Emmerich Rz 41). Denn durch den Verzug wird das Synallagma nicht aufgehoben. Wenn das Urt den Annahmeverzug feststellt, kann der Gläubiger aber aus dem Urt ohne weiteres vollstrecken (§§ 726 II, 756, 765 ZPO). Gleichfalls keinen Ausschlusstatbestand bildet eine Sicherheitsleistung durch den Schuldner, I 3. Auch nach Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis hinsichtlich des Anspruchs auf die Gegenleistung auf den Insolvenzverwalter (§ 80 I InsO) kann der Schuldner die Einrede auf § 320 erheben (BGH WM 13, 848: dann Zahlung in die Insolvenzmasse). Gegen ein temporäres Leistungsverweigerungsrecht aufgrund des COVID-19-bedingten Moratoriums nach dem mWv 1.10.22 aufgehobenen Art 240 § 1 EGBGB aF ist hingegen eine Berufung auf § 320 unzulässig. Das dem von der COVID-19-Pandemie betroffenen Verbraucher bzw Kleinstunternehmen zustehende Leistungsverweigerungsrecht würde seinen Zweck verfehlen, könnte es der andere Teil mithilfe des § 320 torpedieren (Schmidt-Kessel/Möllnitz NJW 20, 1103).