Prof. Dr. Michael Stürner
I. Vorleistungspflicht aus gegenseitigem Vertrag.
Rn 2
Es muss sich wie bei § 320 um gegenseitige Forderungen aus einem gegenseitigen Vertrag handeln (§ 320 Rn 2) und es muss hinsichtlich einer solchen Forderung eine Vorleistungspflicht bestehen (vgl § 320 Rn 3 ff). Ob diese auf G oder Vereinbarung beruht, bleibt gleich.
II. Gefährdung des Anspruchs auf die Gegenleistung.
Rn 3
Der Anspruch auf die Gegenleistung muss objektiv gefährdet sein, und zwar durch mangelnde Leistungsfähigkeit des anderen Teils, I 1. Worauf der Mangel der Leistungsfähigkeit beruht, bleibt gleich. So kommen neben schlechten Vermögensverhältnissen etwa in Betracht auch Leistungshindernisse aus Export- oder Importverboten, Kriegsereignissen, Zusammenbrüchen von Zulieferern sowie aus Krankheit des Schuldners oder seiner unentbehrlichen Mitarbeiter (BTDrs 14/6040, 179). Auch ein vorübergehendes Leistungshindernis auf Seiten des Vorleistungsberechtigten kann ein Leistungsverweigerungsrecht des Vorleistungsverpflichteten gem I 1 begründen (BGH NJW 10, 1272, 1274 [BGH 11.12.2009 - V ZR 217/08]; krit D. Kaiser NJW 10, 1254). Zur Bedeutung der Unsicherheitseinrede im Falle des Brexits Schmidt-Kessel ZIP 18, 2199. Die Unsicherheitseinrede kann nicht gegen das Zurückbehaltungsrecht nach dem zum 1.10.22 aufgehobenen Art 240 § 1 EGBGB aF angeführt werden (vgl § 320 Rn 11). Die Unsicherheitseinrede wird nicht durch § 651h verdrängt (Führich NJW 20, 2137, 2140).
III. Erkennbarwerden der Gefährdung nach Vertragsabschluss.
Rn 4
Diese Gefährdung darf erst nach dem Vertragsabschluss erkennbar geworden sein. Das erfasst sowohl die erst nach Vertragsabschluss eingetretene Gefährdung wie auch die schon vorhandene, aber noch nicht erkennbare.
Rn 5
Nach dem Zweck des § 321 entscheidet die Erkennbarkeit gerade für den Vorleistungspflichtigen. Andererseits bedeutet aber ›Erkennbarkeit‹, dass es nicht auf das wirkliche Erkennen ankommt. Welche Mühe der Vorleistungspflichtige aufwenden muss, um eine Gefährdung seines Anspruchs zu bemerken, lässt sich nur nach den Umständen konkretisieren. Dazu gehören einerseits die Geschäftsgewandtheit des Vorleistungspflichtigen wie andererseits das geschäftliche Ansehen des anderen Teils (zB infolge staatlicher Aufsicht etwa bei einer Bank oder Versicherung).
IV. Kein Ausschlusstatbestand.
Rn 6
Nach I 2 soll das Leistungsverweigerungsrecht entfallen, wenn die Gegenleistung bewirkt oder für sie Sicherheit geleistet wird. Das ist für das Bewirken der Gegenleistung selbstverständlich: Dann handelt es sich ja auch nicht mehr um eine Vorleistung. Für die Sicherheitsleistung gelten die §§ 232 ff; nach §§ 232 II, 239 genügt also (anders als nach § 273 III 2) auch die Stellung eines tauglichen Bürgen.
Rn 7
Ein nachträglicher Wegfall der Anspruchsgefährdung lässt auch die Einrede nach I 1 entfallen (Grüneberg/Grüneberg Rz 7).
Rn 8
Endlich dürfte auch der gemeinsame Grundgedanke der §§ 323 VI, 326 II analog anzuwenden sein: I 1 scheidet aus, wenn der Vorleistungspflichtige für die Gefährdung seines Gegenanspruchs allein oder weit überwiegend verantwortlich ist (etwa dadurch, dass er die Leistungsunfähigkeit seines Gläubigers durch die Nichterfüllung einer anderen Verpflichtung selbst herbeigeführt hat). Darüber hinaus kommt in Betracht, dass die Gefährdung erst zu einem Zeitpunkt eingetreten ist, in dem sich der Vorleistungspflichtige im Schuldnerverzug befunden hat. Denn dann wäre die Gefährdung durch pflichtgemäßes Verhalten des Vorleistungspflichtigen vermieden worden (vgl MüKo/Emmerich Rz 18).