Prof. Dr. Michael Stürner
I. Gegenseitiger Vertrag.
Rn 2
Die verletzte Pflicht muss aus einem gegenseitigen Vertrag stammen (Vor § 320 Rn 3 ff). Für § 326 aF war angenommen worden, es müsse sich um eine Hauptpflicht handeln. Daher sollte die Verletzung einer nicht im Synallagma stehenden bloßen Nebenleistungspflicht (das Schulbsp war idR die Abnahmepflicht des Käufers nach § 433 II; s BGH NJW 72, 99 [BGH 30.09.1971 - VII ZR 20/70]) dem Gläubiger kein Rücktrittsrecht gewähren. Diese Einschränkung ist nicht unverändert nach § 323 übernommen worden, kehrt aber dort doch weithin wieder.
Rn 3
Als Nebenleistungspflichten sind Pflichten bezeichnet worden, an deren Erfüllung dem Gläubiger weniger dringend gelegen war. Das findet eine Parallele jetzt in V 1: Der Gläubiger kann beim Ausbleiben bloß eines Leistungsteils vom ganzen Vertrag nur dann zurücktreten, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat. Bei einer nicht vertragsgemäßen Leistung ist der Rücktritt wegen einer bloß unerheblichen Pflichtverletzung ausgeschlossen, V 2. Das Eine oder das Andere wird idR bei den früher sog Nebenpflichten vorliegen. Insoweit ist auch jetzt § 323 nicht unbeschränkt anwendbar. Freilich können die Parteien bei einer untypischen Interessenlage Abweichendes vereinbaren und damit zur vollen Anwendbarkeit von § 323 gelangen (vgl Grigoleit FS Canaris [07] I, 275, 294). Für die Verletzung bloßer Schutzpflichten (§ 241 II) bringt § 324 eine den § 323 verdrängende Sonderregel.
II. Fälligkeit der Leistung.
Rn 4
Das Rücktrittsrecht aus § 323 bedeutet eine Reaktion auf eine Pflichtverletzung des Schuldners. Daran fehlt es idR vor Fälligkeit (§ 271), vgl BGH ZIP 12, 1463 Rz 16 mwN.
Rn 5
In Anknüpfung an Art 72 CISG (übereinstimmend Art 7.3.3 UNIDROIT Principles und Art 9:304 PECL bzw Art III.-3:504 DCFR) bestimmt IV jedoch (abdingbar) eine Ausnahme von dem Fälligkeitserfordernis: Der Gläubiger soll schon vor Eintritt der Fälligkeit zurücktreten können, ›wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen des Rücktritts eintreten werden‹ (sog vorweggenommener oder antizipierter Vertragsbruch, dazu Weidt Antizipierter Vertragsbruch, 08). Das Rücktrittsrecht nach IV kann nicht mehr ausgeübt werden, wenn die Leistung fällig geworden ist; die Wirksamkeit eines Rücktritts bestimmt sich ab diesem Zeitpunkt nach I und II (BGH ZIP 12, 1463). Im Werkvertragsrecht wird IV vor Abnahme relevant, Mayr/von Berg BauR 18, 877.
Rn 6
Dabei geht es va um zwei Fallgruppen: (1) Die Erfüllungsverweigerung oder Vertragsaufsage von II Nr 1, nämlich, wenn der Schuldner ernsthaft und endgültig erklärt, er werde nicht vertragsgemäß leisten (insb auch, weil er die Wirksamkeit des Vertrages leugnet). – (2) Va beim Werkvertrag die Fälle, in denen der Hersteller die Leistungsvorbereitungen derart verzögert, dass die rechtzeitige Leistung nicht mehr zu erwarten ist. In diesen beiden und in ähnlichen Fallgruppen wäre es sinnlos, den Gläubiger zunächst weiter an einen Vertrag zu binden, der mit hoher Wahrscheinlichkeit doch nicht erfüllt werden wird. Die Gefährdung der Erfüllung wird hier zu einem eigenen Störungstatbestand (MüKo/Ernst Rz 138).
Rn 7
Voraussetzung für den Rücktritt vor Fälligkeit ist, dass der Rücktrittstatbestand ›offensichtlich‹ später eintreten wird. Danach muss eine Nicht- oder Schlechtleistung sicher zu erwarten sein (MüKo/Ernst Rz 140). Grüneberg/Grüneberg Rz 23 verlangt – wohl ohne sachlichen Unterschied – eine ›an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit‹. Das ist erheblich mehr als die Erkennbarkeit einer Gefährdung bei § 321 I 1. Dieser Unterschied ist sinnvoll: Bei § 321 I 1 geht es nur um eine Abmilderung der Vorleistungspflicht, bei IV dagegen um die endgültige Vertragsbeendigung durch Rücktritt. Zur Anwendung beider Normen iRd Brexit Schmidt-Kessel ZIP 18, 2199.
Rn 8
Die Prognoseentscheidung nach IV muss objektiv und nach den Verhältnissen zur Zeit des Rücktritts getroffen werden. Fehlt dennoch die nötige Sicherheit, so geht das zu Lasten des Gläubigers; insb ist sein Rücktritt unwirksam.
Rn 9
Eine Fristsetzung oder vorherige Androhung des Rücktritts sind hier im G nicht vorgesehen. Doch liegt es oft im Interesse des mit dem Prognoserisiko belasteten Gläubigers, vor dem Rücktritt mit dem Schuldner Kontakt aufzunehmen, etwa mit der Frage, wie dieser die vertragsgemäße Erfüllung noch erreichen wolle (im selben Sinn MüKo/Ernst Rz 141).
Rn 10
Rechtsfolge von IV ist ein Rücktrittsrecht (zur Kündigung bei Dauerschuldverhältnissen s § 314 Rn 19). Dieses kann vor Fälligkeit nicht weiter reichen als danach. Folglich müssen die beiden Grenzen von V (Interessewegfall bei Teilleistung, vgl u. Rn 39) und Erheblichkeit der Pflichtverletzung bei Schlechtleistung (u. Rn 43) auch bei IV gelten (MüKo/Ernst Rz 147).
Rn 11
Schadensersatzpflichten kommen bei Vertretenmüssen (§ 280 I 2) für den Gläubiger wegen eines unberechtigten Rücktritts und für den Schuldner dann in Betracht, wenn dieser den drohenden Leistungsmangel und damit den Rücktritt pflichtwidrig veranlasst hat.
III. Nicht- oder Schlechtleistung.
Rn 12
Weitere Voraussetzung nach I ist, dass der Schuldner eine Leistung ›nicht o...