Prof. Dr. Michael Stürner
Rn 4
Das Rücktrittsrecht aus § 323 bedeutet eine Reaktion auf eine Pflichtverletzung des Schuldners. Daran fehlt es idR vor Fälligkeit (§ 271), vgl BGH ZIP 12, 1463 Rz 16 mwN.
Rn 5
In Anknüpfung an Art 72 CISG (übereinstimmend Art 7.3.3 UNIDROIT Principles und Art 9:304 PECL bzw Art III.-3:504 DCFR) bestimmt IV jedoch (abdingbar) eine Ausnahme von dem Fälligkeitserfordernis: Der Gläubiger soll schon vor Eintritt der Fälligkeit zurücktreten können, ›wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen des Rücktritts eintreten werden‹ (sog vorweggenommener oder antizipierter Vertragsbruch, dazu Weidt Antizipierter Vertragsbruch, 08). Das Rücktrittsrecht nach IV kann nicht mehr ausgeübt werden, wenn die Leistung fällig geworden ist; die Wirksamkeit eines Rücktritts bestimmt sich ab diesem Zeitpunkt nach I und II (BGH ZIP 12, 1463). Im Werkvertragsrecht wird IV vor Abnahme relevant, Mayr/von Berg BauR 18, 877.
Rn 6
Dabei geht es va um zwei Fallgruppen: (1) Die Erfüllungsverweigerung oder Vertragsaufsage von II Nr 1, nämlich, wenn der Schuldner ernsthaft und endgültig erklärt, er werde nicht vertragsgemäß leisten (insb auch, weil er die Wirksamkeit des Vertrages leugnet). – (2) Va beim Werkvertrag die Fälle, in denen der Hersteller die Leistungsvorbereitungen derart verzögert, dass die rechtzeitige Leistung nicht mehr zu erwarten ist. In diesen beiden und in ähnlichen Fallgruppen wäre es sinnlos, den Gläubiger zunächst weiter an einen Vertrag zu binden, der mit hoher Wahrscheinlichkeit doch nicht erfüllt werden wird. Die Gefährdung der Erfüllung wird hier zu einem eigenen Störungstatbestand (MüKo/Ernst Rz 138).
Rn 7
Voraussetzung für den Rücktritt vor Fälligkeit ist, dass der Rücktrittstatbestand ›offensichtlich‹ später eintreten wird. Danach muss eine Nicht- oder Schlechtleistung sicher zu erwarten sein (MüKo/Ernst Rz 140). Grüneberg/Grüneberg Rz 23 verlangt – wohl ohne sachlichen Unterschied – eine ›an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit‹. Das ist erheblich mehr als die Erkennbarkeit einer Gefährdung bei § 321 I 1. Dieser Unterschied ist sinnvoll: Bei § 321 I 1 geht es nur um eine Abmilderung der Vorleistungspflicht, bei IV dagegen um die endgültige Vertragsbeendigung durch Rücktritt. Zur Anwendung beider Normen iRd Brexit Schmidt-Kessel ZIP 18, 2199.
Rn 8
Die Prognoseentscheidung nach IV muss objektiv und nach den Verhältnissen zur Zeit des Rücktritts getroffen werden. Fehlt dennoch die nötige Sicherheit, so geht das zu Lasten des Gläubigers; insb ist sein Rücktritt unwirksam.
Rn 9
Eine Fristsetzung oder vorherige Androhung des Rücktritts sind hier im G nicht vorgesehen. Doch liegt es oft im Interesse des mit dem Prognoserisiko belasteten Gläubigers, vor dem Rücktritt mit dem Schuldner Kontakt aufzunehmen, etwa mit der Frage, wie dieser die vertragsgemäße Erfüllung noch erreichen wolle (im selben Sinn MüKo/Ernst Rz 141).
Rn 10
Rechtsfolge von IV ist ein Rücktrittsrecht (zur Kündigung bei Dauerschuldverhältnissen s § 314 Rn 19). Dieses kann vor Fälligkeit nicht weiter reichen als danach. Folglich müssen die beiden Grenzen von V (Interessewegfall bei Teilleistung, vgl u. Rn 39) und Erheblichkeit der Pflichtverletzung bei Schlechtleistung (u. Rn 43) auch bei IV gelten (MüKo/Ernst Rz 147).
Rn 11
Schadensersatzpflichten kommen bei Vertretenmüssen (§ 280 I 2) für den Gläubiger wegen eines unberechtigten Rücktritts und für den Schuldner dann in Betracht, wenn dieser den drohenden Leistungsmangel und damit den Rücktritt pflichtwidrig veranlasst hat.