Prof. Dr. Michael Stürner
Rn 10
Die Neufassung der Vorschrift durch das Gesetz v 10.8.21 (Rn 1) hat gegenüber § 357 VIII aF keine wesentlichen Inhaltsänderungen zur Folge; neu ist die Beschränkung der Regelung auf Dienstleistungen, die den Verbraucher vertraglich zur Zahlung verpflichten. Nicht erfasst sind damit solche Verträge, nach denen der Unternehmer sich zur Bereitstellung einer digitalen Dienstleistung für den Verbraucher verpflichtet und der Verbraucher hierfür keinen Preis zu zahlen hat, aber personenbezogene Daten bereitstellt oder deren Bereitstellung zusagt (BTDrs 19/27655, 31). Die Norm dient der Umsetzung von Art 7 III, 8 VIII und 14 III, IV VRRL. Sie geht auf § 312e II aF zurück, der den Wertersatz bei Dienstleistungen im Fernabsatz regelte. II reicht insoweit über § 312e II aF hinaus, als nicht nur Verträge über Dienstleistungen (s § 312 Rn 5) erfasst sind, sondern auch Verträge über die Lieferung von Wasser, Gas, Strom oder Fernwärme (zu diesen noch Rn 17). Für diese Verträge besteht eine Wertersatzpflicht für die bisher erbrachten Leistungen (für Partnervermittlungsvertrag Hambg MDR 17, 935; best durch BGH MMR 18, 526 [BGH 30.11.2017 - I ZR 47/17]; MMR 21, 807 [BGH 17.06.2021 - III ZR 125/19]; abgelehnt bei irreführender Belehrung in BGH NJW 21, 3122 [BGH 20.05.2021 - III ZR 126/19]; für Architektenvertrag Stuttg NJW 18, 3394 [BGH 28.08.2018 - VI ZB 44/17] Rz 45) unter folgenden Voraussetzungen:
I. Leistungsverlangen des Verbrauchers.
Rn 11
Der Verbraucher muss sich damit einverstanden erklärt haben, dass der Unternehmer vor Ablauf der Widerrufsfrist mit der Lieferung beginnt (II 1 Nr 1). Das darin liegende Leistungsverlangen des Verbrauchers muss ›ausdrücklich‹ erfolgt sein; eine Fiktion dieser Erklärung in den Unternehmer-AGB genügt nicht (Grüneberg/Grüneberg Rz 8). Damit soll verhindert werden, dass der Verbraucher im Ergebnis eine ihm vor dem Widerruf aufgedrängte Dienstleistung vergüten muss.
Rn 12
Zu beachten ist § 356 IV: Danach erlischt in Fällen, in denen der Unternehmer bereits vollständig an den Verbraucher geleistet hat, das Widerrufsrecht des Verbrauchers, und dem Unternehmer steht ein Zahlungsanspruch gegen diesen zu. Für einen Wertersatzanspruch des Unternehmers ist dann naturgemäß kein Raum mehr. II 1 Nr 1 erfasst damit diejenigen Fälle, in denen der Unternehmer seine Leistung bei Ausübung des Widerrufsrechts durch den Verbraucher erst tw erbracht hat.
Rn 13
Bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen verlangt II 1 Nr 2 zusätzlich, dass der Verbraucher das Leistungsverlangen dem Unternehmer auf einem dauerhaften Datenträger (§ 126b S 2) übermittelt hat. Für Fernabsatzverträge bedeutet dies im Umkehrschluss, dass der Verbraucher dem Unternehmer auch mündlich mitteilen kann, dass er mit der Lieferung beginnen kann. Die strengere Anforderung bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen nach II 1 Nr 2 lässt sich mit dem Überraschungsmoment für den Verbraucher, das diesen Verträgen immanent ist, rechtfertigen.
II. Belehrung.
Rn 14
Der Verbraucher muss über diese Rechtsfolge ordnungsgemäß nach Art 246a § 1 II 1 Nr 1 und 3 EGBGB belehrt worden sein (II 1 Nr 3). Diese Informationen müssen gem Art 246a § 4 II 1 EGBGB auf Papier oder, wenn der Verbraucher zugestimmt hat, auf einem anderen dauerhaften Datenträger zur Verfügung gestellt worden sein (BGH NJW-RR 21, 177 [BGH 26.11.2020 - I ZR 169/19] Rz 72; s dazu § 356 Rn 8). Ohne solche Belehrung entfällt jegliche Verpflichtung zum Wertersatz; eine mögliche Bereicherung des Verbrauchers ist hinzunehmen (EuGH 17.5.23, C-97/22 – DC/HJ Rz 34; krit Wendehorst NJW 23, 2155 [BGH 23.06.2023 - V ZR 89/22]).
III. Umfang des Wertersatzes.
Rn 15
II 2 legt fest, dass der vertraglich bestimmte Gesamtpreis bei der Berechnung des Wertersatzes zugrunde zu legen ist. Dabei ist grds auf den im Vertrag vereinbarten Preis für die Gesamtheit der vertragsgegenständlichen Leistungen abzustellen und der geschuldete Betrag zeitanteilig zu berechnen. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der geschlossene Vertrag ausdrücklich vorsieht, dass eine oder mehrere der Leistungen gleich zu Beginn der Vertragsausführung vollständig und gesondert zu einem getrennt zu zahlenden Preis erbracht werden: Dann ist bei der Berechnung des dem Unternehmer zustehenden Betrags der volle für eine solche Leistung vorgesehene Preis zu berücksichtigen (EuGH 8.10.20, C-641/19 – PE Digital, ECLI:EU:C:2020:808 Rz 28 ff). S für die zeitanteilige Berechnung BGH WM 21, 1714.
Rn 16
Liegt der vereinbarte Gesamtpreis unverhältnismäßig hoch, so ist nach II 3 der Marktpreis anzusetzen. Art 14 III 3 VRRL spricht von einem ›überhöhten‹, ErwGr 50 VRRL hingegen von einem ›unverhältnismäßigen‹ Gesamtpreis. Wann eine Unverhältnismäßigkeit gegeben ist, muss iR einer Einzelfallabwägung ermittelt werden. Faktoren können – in Anlehnung an die Auslegung der § 275 II, § 343 I oder § 655 – insb der vom Unternehmer betriebene Aufwand und das wirtschaftliche Interesse des Verbrauchers an der Leistung sein. Weiterhin sollen sowohl der Vergleich mit dem Preis, den der betreffende Unternehmer von anderen Ve...