Prof. Dr. Thomas Pfeiffer
Gesetzestext
Der Überbringer einer Quittung gilt als ermächtigt, die Leistung zu empfangen, sofern nicht die dem Leistenden bekannten Umstände der Annahme einer solchen Ermächtigung entgegenstehen.
A. Zweck und Überblick.
Rn 1
Die Vorschrift regelt einen Fall der Verantwortlichkeit für verursachten Rechtsschein (BGHZ 40, 297). Trotz der Formulierung ›gilt‹ liegt damit weder eine Fiktion noch eine widerlegliche Vermutung vor. Der Rechtsscheintatbestand ist zweiteilig ausgestaltet: Er setzt positiv voraus, dass der Leistungsempfänger Überbringer einer Quittung ist. Negativ wird § 370 ausgeschlossen durch Vorliegen von dem Leistenden bekannten Umständen, die zur Beseitigung des Rechtsscheins geeignet sind. Der Rechtsfolge nach wird eine Empfangsermächtigung fingiert (§§ 362 II, 185). Die Vorschrift begründet allerdings keinen generellen Gutglaubensschutz des Zahlenden.
B. Schutz des Leistenden.
Rn 2
Geschützt wird der Leistende. Das ist neben dem Schuldner auch ein iRd §§ 267, 268 leistender Dritter, wobei es dann auf dessen Kenntnis ankommt. Andere Personen, die mit Blick auf eine Quittung Vermögensdispositionen vornehmen, fallen nicht in den Schutzbereich der Vorschrift. Wird anderen Personen eine unrichtige oder unechte Quittung vorgelegt, so können Schadensersatzansprüche aus dem insoweit betroffenen Rechtsverhältnis oder aus § 826 eingreifen (Hamm BB 93, 680 [OLG Hamm 29.09.1992 - 7 U 165/91]).
Rn 3
§ 370 verlangt, dass die Leistung erbracht wird. Die Vorschrift greift nicht im Falle der Aufrechnung. Zur Annahme einer Leistung an Erfüllungs statt wird im Schrifttum formuliert, § 370 greife nicht ein (Grüneberg/Grüneberg Rz 5; MüKo/Fetzer Rz 5). Richtigerweise ist allerdings zu differenzieren: § 370 berechtigt den Überbringer nicht, eine nicht vereinbarte Leistung an Erfüllungs statt anzunehmen (Staud/Olzen Rz 9). Ist dagegen eine Ersetzungsbefugnis des Schuldners (und damit die Möglichkeit einer Leistung an Erfüllungs statt) vereinbart und legt der Überbringer eine Quittung hierfür vor, ist er als zu deren Empfang ermächtigt anzusehen.
C. Überbringer einer Quittung.
I. Überbringer.
Rn 4
Positive Rechtsscheingrundlage ist das Überbringen einer Quittung. Überbringer ist derjenige, der dem Schuldner die Quittung vorlegen kann. Auf eine bereits von einer anderen Person übergebene oder später übersandte Quittung kann sich deshalb niemand berufen (Staud/Olzen Rz 6; vgl auch RGZ 102, 344).
II. Quittung.
Rn 5
Das Merkmal der Quittung ist einmal Bestandteil des Rechtsscheintatbestands. Es dient zugleich dazu, die Zurechenbarkeit des Rechtsscheins zu gewährleisten. Es muss sich um eine Quittung iSd § 368 handeln. Hierzu muss sie dem Schriftlichkeitserfordernis dieser Vorschrift genügen und echt sein, also durch den Gläubiger oder eine sonst berechtigte Person ausgestellt sein. Ein abredewidrig ausgefülltes Blankett reicht für die Zurechenbarkeit des Rechtsscheins aus (BGHZ 40, 297). Wer auf eine falsche oder verfälschte Quittung zahlt, wird hingegen nicht frei (RGZ 73, 347). Er kann aber gegen den Vertragspartner bei fahrlässiger Mitverursachung der Fälschung einen Ersatzanspruch aus § 280 I haben (RGZ 160, 310). Da der Zurechnungstatbestand in der Ausstellung der Quittung liegt, reicht auch eine gestohlene oder abhanden gekommene Quittung aus. Dies folgt auch im Umkehrschluss aus dem Erfordernis der Widerlegung des Rechtsscheins durch dem Leistenden bekannte Umstände. Zudem muss die Quittung echt sein. Die missbräuchliche Verwendung des E-Mail-Accounts des Gläubigers genügt nicht (Karlsr MMR 23, 761, 763 [OLG Karlsruhe 27.07.2023 - 19 U 83/22]).
Rn 6
Der Rechtsschein kann nicht durch Anfechtung beseitigt werden. Vorrang vor dem Rechtsschein haben die Regeln zum Schutz Geschäftsunfähiger und beschränkt Geschäftsfähiger (BGH NJW 77, 622 [BGH 12.10.1976 - VI ZR 172/75]).
D. Widerlegung durch die Umstände.
Rn 7
Der durch das Überbringen der Quittung hervorgerufene Rechtsschein kann durch andere Umstände beseitigt werden. Die Vorschrift stellt auf objektive Umstände und deren positive Kenntnis durch den Schuldner ab. Das Kennenmüssen der Umstände genügt nicht. Hingegen kommt es bei Kenntnis der Umstände nicht darauf an, ob der Leistende den zutreffenden Schluss auf die mangelnde Berechtigung des Überbringers gezogen hat.
Rn 8
Gutgläubigkeit im Hinblick auf die Berechtigung wird nicht ausdrücklich verlangt. Allerdings kann die Vorschrift nach allgemeinen Rechtsscheingrundsätzen wegen mangelnder Schutzbedürftigkeit nicht eingreifen, wenn der Schuldner bösgläubig ist und positiv weiß, dass der Überbringer der Quittung nicht berechtigt ist, die Leistung entgegenzunehmen. Zudem können die der positiven Kenntnis der fehlenden Berechtigung zugrunde liegenden Umstände der Annahme einer Ermächtigung zum Leistungsempfang entgegenstehen und damit auch schon nach dem Wortlaut der Vorschrift die Rechtsscheinwirkung entfallen lassen.