Rn 36
Die internationalen Vereinbarungen des Arbeitsvölkerrechts binden unmittelbar nur die vertragsschließenden Staaten. Nach Ratifizierung der Vereinbarung ist durch Auslegung zu ermitteln, inwieweit auch unmittelbar subj Rechte der Bürger begründet werden, wie zB durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.50 (Art 11 und 14) oder die Europäische Sozialcharta vom 18.10.61 (Teil II = Art 1–19). Das Primärrecht der EU enthält vorwiegend Zielvorgaben für die Mitgliedstaaten, Kompetenzregeln und die institutionellen Vorschriften, vereinzelt aber auch subj Rechte, wie das Verbot der Diskriminierung wegen Staatsangehörigkeit (Art 45 II AEUV), Alters (EuGH NZA 11, 1039 [BAG 23.03.2011 - 10 AZR 562/09] – Prigge; 10, 85 – Kücükdeveci, Anm Lingemann ArbR 10, 64; BB 05, 2748 – Mangold; BVerfG NZA 10, 995 [BVerfG 06.07.2010 - 2 BvR 2661/06]) oder des Geschlechts (unmittelbare Wirkung des Art 157 AEUV auf das Arbeitsverhältnis, EuGH C-624/19 – K, L ua/Tesco Stores Ltd, NZA 21, 855 [EuGH 03.06.2021 - C-624/19] = ECLI:EU:C:2021:429). Insoweit können auch Richtlinien (dazu sogleich) unmittelbare Rechtswirkungen dahin entfalten, dass entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts unanwendbar sind (BAG NZA 19, 527 [BAG 19.12.2018 - 7 AZR 70/17]; iE Einführung AGG Rn 7). Nach der Lissabon-Entscheidung des BVerfG (NJW 09, 2267 [BVerfG 30.06.2009 - 2 BvE 2/08]) ist diese unmittelbare Wirkung jedoch eingeschränkt. Im Unionsrecht (insb GRCh) garantierte Grundrechte gelten nur bei der Durchführung von EU-Recht (EuGH NZA 15, 349). Vom Primärrecht abgeleitet ist das Sekundärrecht, dessen wichtigste Instrumente VO und RL sind (Art 288 AEUV). Die VO entfaltet unmittelbare Geltung zwischen den Arbeitsvertragsparteien, die RL bedarf hierfür der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten (Art 288 AEUV). Ausnahmen sind va in zwei Fällen denkbar: Zum einen sind Richtlinien nach Ablauf der Umsetzungsfrist auch schon vor ihrer Umsetzung bei Auslegung nationalen Rechts zu berücksichtigen (richtlinienkonforme Auslegung, vgl EuGH NZA 06, 909 und BAG NZA 22, 1616 [BAG 13.09.2022 - 1 ABR 22/21]), wobei die Wortlautgrenze gilt (BAG NZA 03, 742). Zum anderen kann sich der Bürger im Verhältnis zum Staat nach ungenutztem Ablauf der Umsetzungsfrist oder bei fehlerhafter Umsetzung uU auf die RL berufen. Im Arbeitsrecht können so unmittelbare Wirkungen zwischen öffentlichen ArbG und ArbN (EuGH NZA 11, 557 – Römer, Anm Bauer, ZESAR 12, 180; EuGH NZA 03, 506 – Kutz-Bauer; BAG NZA 03, 742 [BAG 18.02.2003 - 1 ABR 2/02]) und Schadensersatzansprüche betroffener Bürger gegen den säumigen Mitgliedstaat für gesetzgeberisches Fehlverhalten (EuGH NJW 96, 3141; 96, 1267; 92, 165 [BGH 05.12.1991 - I ZR 63/90] – Francovich) entstehen.