Prof. Dr. Oliver Fehrenbacher
Gesetzestext
Ein der Geschäftsführung entgegenstehender Wille des Geschäftsherrn kommt nicht in Betracht, wenn ohne die Geschäftsführung eine Pflicht des Geschäftsherrn, deren Erfüllung im öffentlichen Interesse liegt, oder eine gesetzliche Unterhaltspflicht des Geschäftsherrn nicht rechtzeitig erfüllt werden würde.
A. Überblick.
Rn 1
§ 679 erklärt den Willen des Geschäftsherrn im Hinblick auf die Übernahme und die Ausführung eines Geschäfts für unbeachtlich, wenn den in der Vorschrift genannten überwiegenden Interessen der Vorrang ggü dem Selbstbestimmungsrecht des Geschäftsherrn einzuräumen ist. Liegen die Voraussetzungen der Norm vor, handelt es sich auch bei entgegenstehendem Willen des Geschäftsherrn weder um eine unberechtigte Übernahme nach § 678 noch eine unberechtigte GoA iSd § 684.
B. Voraussetzungen.
Rn 2
§ 679 nennt zwei Fallgruppen, in denen der Wille des Geschäftsherrn unbeachtlich ist. Einerseits wird auf eine Rechtspflicht des Geschäftsherrn abgestellt, die im öffentlichen Interesse liegt, andererseits auf eine gesetzliche Unterhaltspflicht des Geschäftsherrn. In beiden Fällen ist erforderlich, dass ohne das Eingreifen des Geschäftsführers keine rechtzeitige Erfüllung der Pflicht erfolgen würde. Insoweit soll nur die Erfüllung vor Fälligkeit ausgenommen werden (BGH NJW 78, 1258 [BGH 15.12.1977 - III ZR 159/75]). Verzug des Geschäftsherrn ist nicht erforderlich (Grüneberg/Retzlaff § 679 Rz 5).
Rn 3
Es besteht Einigkeit darüber, dass die Rechtspflicht des Geschäftsherrn sowohl privatrechtlicher als auch öffentlich-rechtlicher Natur sein kann (BGHZ 16, 12; 40, 18). Sie kann ihre Grundlage im Gesetz, in einem Hoheitsakt oder in einem Vertrag haben. Eine sittliche Pflicht oder lediglich öffentliches Interesse genügen nicht (MüKo/Schäfer § 679 Rz 7).
Rn 4
Die Erfüllung der Rechtspflicht und das Eingreifen des Geschäftsführers müssen im öffentlichen Interesse liegen. Dabei reicht das allgemeine Interesse an der Erfüllung von Verbindlichkeiten nicht aus. Ein relevantes konkretes öffentliches Interesse erfordert, dass der Geschäftsführer zur Vermeidung von Gefährdungen oder Beeinträchtigungen für wichtige Schutzgüter (Leben, Körper, Gesundheit, wichtige Sachgüter) anstatt der eigentlich zuständigen Person tätig wird. Ein ausreichendes öffentliches Interesse am Eingreifen des Geschäftsführers liegt mit Ausnahme der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit regelmäßig nicht vor, wenn ein Handlungsermessen der zuständigen Stellen zu berücksichtigen ist (BGHZ 138, 281; NJW 78, 1258).
Rn 5
Die Beispiele aus der Rspr betreffen in erster Linie Verkehrssicherungspflichten: Abwehr von Gefahren für den Straßen- und Bahnverkehr sowie die Schifffahrt (BGHZ 43, 188; 65, 354; 65, 384); Schutz für andere Rechtsgüter vor Gebäudeeinsturz (BGHZ 16, 12); Abwehr von Gefahren für die Allgemeinheit (Gesundheit: BGHZ 110, 313). Bei Maßnahmen für einzelne Personen sind erhöhte Anforderungen zu stellen: Krankenpflege und Krankenhilfe (BGHZ 33, 251); Rücktransport mittelloser Urlauber anstelle der insolventen Fluggesellschaft (LG Frankfurt NJW 83, 52). In der Rspr und Lit wird auch die Übernahme der Beerdigungskosten für die Erben als Geschäft iSd § 679 angesehen (BGHZ 191, 325; Staud/Bergmann § 679 Rz 24). Dagegen dürfte das öffentliche Interesse an der Bezahlung fremder Steuerschulden nicht ausreichend sein (so aber BGHZ 7, 346; BeckOKBGB/Gehrlein § 679 Rz 4; wie hier MüKo/Schäfer § 679 Rz 15; Grüneberg/Retzlaff § 679 Rz 3); gleiches muss für Sozialleistungen gelten (BSG NJW-RR 01, 1282 [BSG 02.03.2000 - B 7 AL 36/99 R]).
Rn 6
§ 679 erfasst nur die gesetzliche Unterhaltspflicht (zB §§ 1360 ff, 1569 ff, 1601 ff, 1615a ff). Vertragliche Unterhaltspflichten oder solche aus unerlaubter Handlung fallen nicht in den Anwendungsbereich von § 679 Alt 2. Die vertragliche Ausgestaltung einer gesetzlichen Unterhaltspflicht lässt den Charakter aber unverändert (Staud/Bergmann § 679 Rz 26). Das Wahlrecht der Eltern nach § 1612 ist zu beachten (Hamm NJW 83, 2203 [OLG Hamm 17.12.1982 - 11 U 202/82]). Für ärztliche Leistungen unter Ehegatten ist § 1357 vorrangig zu berücksichtigen.
C. Erweiternde Anwendung.
Rn 7
Teile der Lit. sehen einen Bedarf, die Norm über den Wortlaut hinaus anzuwenden, wenn der Wille des Geschäftsherrn gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134) oder die guten Sitten (§ 138) verstößt (MüKo/Schäfer § 683 Rz 22). Als praktischer Fall wird die Rettung eines Selbstmörders angeführt. Vorzugswürdiger erscheint es, den entgegenstehenden Willen nach §§ 104 Nr 2, 105 I zu beurteilen (MüKo/Schäfer § 683 Rz 23). Bei nachträglichem Einverständnis mit der Rettung kommt § 684 2 in Betracht (›Selbstmord als Hilferuf‹). Daneben ist ein Anspruch des Retters aus § 823 I wegen der Herausforderung denkbar (Soergel/Beuthien § 679 Rz 15).