Prof. Dr. Eckart Brödermann
Rn 71
Das Gesetz sieht einige besondere Gestaltungen der Bürgschaft vor: Mitbürgschaft (§ 769), Selbstschuldnerische Bürgschaft (s § 773 I Nr 1), Bürgschaft auf Zeit (§ 777). Darüber hinaus hat die Praxis weitere Formen der Bürgschaft entwickelt, die sowohl juristische als auch branchenspezifische Besonderheiten aufweisen (s.a. Vor § 765 Rn 15 ff zu Besonderheiten aus Schnittstellen zu anderen Rechtsgebieten – Handels- und Gesellschaftsrecht, Verbraucherschutz, Prozess- u Insolvenzrecht – sowie oben Rn 20 zur Anlassbürgschaft):
I. Ausfallbürgschaft.
Rn 72
Der Ausfallbürge haftet stets nur ›für den Ausfall‹ (die Einrede der Vorausklage aus § 771 wird quasi schon im Bürgschaftsvertrag erhoben). Sie ist das Gegenteil der selbstschuldnerischen Bürgschaft (BGH NJW 98, 2138, 2141). Der Ausfallbürge haftet nur, soweit der Gläubiger trotz Anwendung gehöriger Sorgfalt – insb durch Geltendmachung seines Anspruchs gegen den Hauptschuldner, durch Zwangsvollstreckung und Verwertung anderer Sicherheiten – keine Befriedigung beim Hauptschuldner erlangen konnte (BGH NJW 98, 2138, 2141 [BGH 19.03.1998 - IX ZR 120/97]; 99, 1467, 1469f [BGH 10.12.1998 - IX ZR 156/98]). Die Leistung vor Feststehen des Ausfalls kann – auch in AGB – als ›unter Vorbehalt‹ vereinbart werden (LG Potsdam, WM 11, 71, 73). In der Insolvenz des Hauptschuldners ist § 43 InsO unanwendbar (vgl RGZ 75, 186, 188; BeckOKInsO/Jungmann § 43 Rz 29 ff). Der Ausfallbürge kann erst nach Beendigung des Verfahrens in Anspruch genommen werden, sofern der Gläubiger den endgültigen (Teil-)Ausfall nicht vorher nachweisen kann (Saarbr, Beck RS 18, 3021 Rz 55).
Rn 73
Der Gläubiger trägt die Beweislast sowohl für den Ausfall als auch dafür, dass er bei der Durchsetzung der Forderung die gebotene Sorgfalt beachtet hat (BGH NJW 99, 1467, 1470 [BGH 10.12.1998 - IX ZR 156/98]). Anders als der gewöhnliche Bürge braucht der Ausfallbürge nicht erst die Einrede der Vorausklage aus § 771 zu erheben (BGH NJW 89, 1484, 1485 [BGH 02.02.1989 - IX ZR 99/88]).
Rn 74
AGB: Eine Klausel, nach der der Ausfall ohne weiteres durch Anzeige des Ausfalls oder durch Ablauf einer bestimmten Frist als eingetreten gilt, ist überraschend iSd § 305c I (BGH NJW 98, 2138, 2141 [BGH 19.03.1998 - IX ZR 120/97]).
II. Bürgschaft auf erstes Anfordern.
1. Funktion, Inhalt.
Rn 75
Die Bürgschaft auf erstes Anfordern hat im Banken- und internationalen Handelsverkehr das früher übliche ›Bardepot‹ abgelöst (BGH NJW 84, 923; LG Kleve ZIP 98, 1632, 1633). Sie soll dem Gläubiger schnell Liquidität verschaffen (BGHZ 151, 236, 241f). Zu diesem Zweck verpflichtet sich der Bürge selbstschuldnerisch bei Auflockerung des Akzessorietätsprinzips (BGHZ 147, 99, 104, vgl Vor § 765 Rn 10) aufgrund einfachen und formalisierten Verlangens (Anforderns, s Rn 80) des Gläubigers sofort und unter einstweiligem Verzicht auf Einwendungen zu zahlen (vgl zB BGH aaO 102; Ausnahme: unstreitige, offenkundige oder aus der Bürgschaftsurkunde ersichtliche Tatsachen, BGHZ 143, 381; 147, 99, 102). Einwendungen kann der Bürge idR erst nach Zahlung in einem Rückforderungsprozess geltend machen (s Rn 82; auch, wenn der Gläubiger den Bürgen im Urkundsprozess in Anspruch nimmt: BGH NJW 94, 380, 382). Damit übernimmt er das Risiko einer zwischenzeitlichen Insolvenz des Gläubigers (BGHZ 151, 236, 242), dass er in der Praxis häufig (zB im Falle einer Bankbürgin oft durch schlichte Kontenbelastung) an den Hauptschuldner weitergibt (BGHZ 150, 299, 304).
2. Wirksamkeit, Auslegung.
Rn 76
Die Beteiligten sind individualvertraglich begrenzt frei, eine Bürgschaft auf erstes Anfordern mit einer vom Gesetzesleitbild der Bürgschaft abw Risikoverteilung zu vereinbaren (BGHZ 95, 375, 387; NJW 98, 2280, 2281): Der Gläubiger darf einen dem Wortlaut nach klaren Bürgschaftstext (bei undeutlichem Text scheidet eine Bürgschaft auf erstes Anfordern ohnehin aus, vgl BGH WM 04, 1648, 1650) nur dann im banküblichen Sinne als Bürgschaft auf erstes Anfordern verstehen, wenn er nach den Umständen davon ausgehen darf, dass der Bürge das gleiche Verständnis hat (BGH NJW 98, 2280). Andernfalls muss er den Bürgen über die Gefährlichkeit der besonderen – den Gläubiger besonders privilegierenden (s BGHZ 153, 311, 317) – Bürgschaftsform aufklären (BGH ZIP 01, 1089, 1090 f; BGHZ 143, 381, 387). Die Verletzung dieser Obliegenheit führt dazu, die Bürgschaft in Abweichung vom Wortlaut als einfache Bürgschaft auszulegen (BGH NJW 98, 2280; ZIP 01, 1089, 1091). Im Hinblick auf die Gefahr der Umqualifizierung einer individualvertraglich gemeinten Vereinbarung (wegen Nutzung von Mustern) in eine unwirksame formularvertragliche (s Rn 77) sollte die Aufklärung im Vertrag einzelfallbezogen dokumentiert und die Bürgschaft individuell formuliert werden (vgl Karst NJW 04, 2059, 2061, der die Bürgschaft auf erstes Anfordern wegen dieser Gefahr als ›Auslaufmodell‹ einschätzt).
Rn 77
Formularvertraglich kann eine Bürgschaft auf erstes Anfordern nur von Unternehmen verlangt werden, die typischerweise über die erforderliche Erfahrung in Garantiegeschäften verfügen, um die Bedeutung einer Bürgschaft auf erstes Anforde...