Prof. Dr. Eckart Brödermann
1. Funktion, Inhalt.
Rn 75
Die Bürgschaft auf erstes Anfordern hat im Banken- und internationalen Handelsverkehr das früher übliche ›Bardepot‹ abgelöst (BGH NJW 84, 923; LG Kleve ZIP 98, 1632, 1633). Sie soll dem Gläubiger schnell Liquidität verschaffen (BGHZ 151, 236, 241f). Zu diesem Zweck verpflichtet sich der Bürge selbstschuldnerisch bei Auflockerung des Akzessorietätsprinzips (BGHZ 147, 99, 104, vgl Vor § 765 Rn 10) aufgrund einfachen und formalisierten Verlangens (Anforderns, s Rn 80) des Gläubigers sofort und unter einstweiligem Verzicht auf Einwendungen zu zahlen (vgl zB BGH aaO 102; Ausnahme: unstreitige, offenkundige oder aus der Bürgschaftsurkunde ersichtliche Tatsachen, BGHZ 143, 381; 147, 99, 102). Einwendungen kann der Bürge idR erst nach Zahlung in einem Rückforderungsprozess geltend machen (s Rn 82; auch, wenn der Gläubiger den Bürgen im Urkundsprozess in Anspruch nimmt: BGH NJW 94, 380, 382). Damit übernimmt er das Risiko einer zwischenzeitlichen Insolvenz des Gläubigers (BGHZ 151, 236, 242), dass er in der Praxis häufig (zB im Falle einer Bankbürgin oft durch schlichte Kontenbelastung) an den Hauptschuldner weitergibt (BGHZ 150, 299, 304).
2. Wirksamkeit, Auslegung.
Rn 76
Die Beteiligten sind individualvertraglich begrenzt frei, eine Bürgschaft auf erstes Anfordern mit einer vom Gesetzesleitbild der Bürgschaft abw Risikoverteilung zu vereinbaren (BGHZ 95, 375, 387; NJW 98, 2280, 2281): Der Gläubiger darf einen dem Wortlaut nach klaren Bürgschaftstext (bei undeutlichem Text scheidet eine Bürgschaft auf erstes Anfordern ohnehin aus, vgl BGH WM 04, 1648, 1650) nur dann im banküblichen Sinne als Bürgschaft auf erstes Anfordern verstehen, wenn er nach den Umständen davon ausgehen darf, dass der Bürge das gleiche Verständnis hat (BGH NJW 98, 2280). Andernfalls muss er den Bürgen über die Gefährlichkeit der besonderen – den Gläubiger besonders privilegierenden (s BGHZ 153, 311, 317) – Bürgschaftsform aufklären (BGH ZIP 01, 1089, 1090 f; BGHZ 143, 381, 387). Die Verletzung dieser Obliegenheit führt dazu, die Bürgschaft in Abweichung vom Wortlaut als einfache Bürgschaft auszulegen (BGH NJW 98, 2280; ZIP 01, 1089, 1091). Im Hinblick auf die Gefahr der Umqualifizierung einer individualvertraglich gemeinten Vereinbarung (wegen Nutzung von Mustern) in eine unwirksame formularvertragliche (s Rn 77) sollte die Aufklärung im Vertrag einzelfallbezogen dokumentiert und die Bürgschaft individuell formuliert werden (vgl Karst NJW 04, 2059, 2061, der die Bürgschaft auf erstes Anfordern wegen dieser Gefahr als ›Auslaufmodell‹ einschätzt).
Rn 77
Formularvertraglich kann eine Bürgschaft auf erstes Anfordern nur von Unternehmen verlangt werden, die typischerweise über die erforderliche Erfahrung in Garantiegeschäften verfügen, um die Bedeutung einer Bürgschaft auf erstes Anfordern voll zu erfassen: zB Banken und Versicherungen (BGH ZIP 92, 466, 469) oder Unternehmen, zu deren Geschäftsbetrieb solche Erklärungen typischerweise gehören (vgl BGHZ 148, 283, 287: Baugewerbe). Sonst ist die formularvertragliche Gestaltung einer Bürgschaft durch den Gläubiger als Bürgschaft auf erstes Anfordern überraschend und unangemessen (§§ 305c, 307; BGH NJW 02, 3627, 3628 [BGH 10.09.2002 - XI ZR 305/01]).
Rn 78
Unwirksam ist bereits auch eine formularvertragliche Verpflichtung in der Sicherungsabrede (Rn 4) zur Beibringung einer Bürgschaft auf erstes Anfordern (zB BGHZ 150, 299, 303 f; 157, 29, 31 aE; BGH NJW-RR 08, 830: selbst bei Hinterlegungsmöglichkeit; aA für den internationalen Wirtschaftsverkehr Oepen NJW 09, 1110, 1113f). Altverträge (bis 31.12.02: BGH WM 04, 1079, 1080) über die Besicherung durch Vertragserfüllungsbürgschaften können im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung so auszulegen sein, dass stattdessen eine unbefristete, selbstschuldnerische Bürgschaft zu stellen ist (BGHZ (VII. ZS) 151, 229, 234 ff; 153, 311, 316; WM 04, 1079) und eine bereits gestellte Bürgschaft auf erstes Anfordern entspr umzudeuten ist (BGHZ 153, 311, 316; 154, 378, 385). Der Bürge kann vom Gläubiger schriftliche Bestätigung darüber verlangen, nicht auf erstes Anfordern in Anspruch genommen zu werden (BGH aaO 386 u WM 04, 1079, 1080). Hat der Bürge aber bereits – das Ausmaß seiner Verpflichtung verkennend – auf eine solche Bürgschaft gezahlt, steht ihm ein Rückforderungsanspruch nur zu, wenn der Gläubiger nach materiellem Bürgschaftsrecht keinen Anspruch auf die erhaltene Leistung hat (BGHZ 153, 311, 316).
Rn 79
Für eine Gewährleistungsbürgschaftsklausel auf erstes Anfordern ist eine solche ergänzende Vertragsauslegung hingegen abgelehnt worden (BGH (VII. ZS) NJW-RR 05, 458, 460 [BGH 09.12.2004 - VII ZR 265/03]; 05, 1040, 1041 [BGH 14.04.2005 - VII ZR 56/04]: wegen fehlender typischer Gestaltung; Ddorf NZBau 08, 767 [OLG Düsseldorf 30.05.2008 - 22 U 113/07]: wegen Anwendungsmöglichkeit von § 641 als dispositives Gesetzesrecht).
3. Inanspruchnahme und Einwendung des Rechtsmissbrauchs.
Rn 80
Der Inhalt der Bürgschaftserklärung bestimmt das Vorgehen beim ›Anfordern‹: Dort vorgesehene Voraussetzungen sind zu erfüllen (BGH ZIP 01, 1089, 1090: Beibringung...