Prof. Dr. Eckart Brödermann
1. Irrtum nach § 119.
Rn 45
Bei einem Inhalts- oder Erklärungsirrtum kann der Bürge seine Bürgschaftserklärung nach § 119 I anfechten: vgl zB BGH WM 57, 66, 67 (Motivirrtum über Existenz eines Mitbürgen unerheblich; Verwechslung von Nachbürgschaft und Mitbürgschaft erheblich); BGHZ 91, 324, 329 (fehlendes Erklärungsbewusstsein bei Abgabe einer objektiv als Bürgschaft zu verstehenden Erklärung); NJW 95, 190, 191 (Unterzeichnung der Bürgschaftsurkunde im Glauben, es sei eine Geldanlage). Kein Irrtum liegt vor, wenn der Bürge die Bürgschaftsurkunde ungelesen unterschreibt, ohne sich von deren Inhalt eine bestimmte, unrichtige Vorstellung zu machen (BGH NJW 02, 956, 957: Unterschrift ohne Brille).
Rn 46
Ein zur Anfechtung nach § 119 II berechtigender Eigenschaftsirrtum ist selten: insb berechtigt ein Irrtum über die Solvenz des Hauptschuldners den Bürgen nicht zur Anfechtung nach § 119 II, da er gerade das Insolvenzrisiko des Hauptschuldners übernimmt (BGH WM 56, 885, 889). Ein Irrtum über das Bestehen weiterer Sicherheiten für die Hauptschuld kann im Einzelfall zur Anfechtung berechtigen (vgl RGZ 75, 271 ff: Irrtum über das Bestehen eines Pfandrechts, welches den Bürgen bei Inanspruchnahme nach §§ 774 I, 412, 401 zustünde; Weber Kreditsicherheiten 51). Der Irrtum über die Werthaltigkeit einer weiteren Sicherheit berechtigt hingegen nicht zur Anfechtung (BGH WM 66, 92, 94).
Rn 47
Der Gläubiger kann einen Darlehensvertrag nach § 119 II anfechten, wenn er nachträglich von der Vermögenslosigkeit des Bürgen Kenntnis erlangt (Staud/Stürner § 765 Rz 169; MüKoBGB/Armbrüster § 119 Rz 140).
2. Täuschung nach § 123 I Alt 1.
Rn 48
Täuscht der Gläubiger den Bürgen (ggf unter Verletzung einer Aufklärungspflicht, s Rn 57 f), so kann der Bürge nach § 123 I Alt 1 anfechten: s BGH NJW 01, 3331 [BGH 12.07.2001 - IX ZR 360/00] (Täuschung über die Erteilung weitere Aufträge durch den Gläubiger an den Hauptschuldner); BGH NJW-RR 02, 1133 [BGH 08.11.2001 - IX ZR 46/99] (Täuschung über die Verwendung des verbürgten Darlehens zur Umschuldung). Subjektiv genügt es, dass der Gläubiger mit der Möglichkeit rechnet, der Bürge werde sich durch die falsche Vorstellung zur Abgabe der Bürgschaftserklärung bestimmen lassen (BGH WM 62, 1393, 1396).
Rn 49
Wenn der Hauptschuldner den Bürgen täuscht, so ist der Hauptschuldner idR Dritter iSd § 123 II 1 (BGH WM 92, 1016 [BGH 09.04.1992 - IX ZR 145/91]): Der Bürge kann seine Bürgschaftserklärung (nur) dann anfechten, wenn der Gläubiger die Täuschung kannte oder kennen musste. Für eine fahrlässige Unkenntnis des Gläubigers reicht es, wenn die Umstände des Falles ihn veranlassen mussten, sich zu erkundigen, ob die Willenserklärung auf einer Täuschung beruht oder nicht (aaO 1016f). Der Hauptschuldner ist ausnahmsweise nicht Dritter, wenn er als Verhandlungsführer oder -gehilfe des Gläubigers auftritt oder wegen einer besonders engen Beziehung zum Gläubiger als dessen Vertrauensperson erscheint (aaO 1016).
3. Widerrechtliche Drohung (§ 123 I Alt 2).
Rn 50
Eine Anfechtung nach § 123 I Alt 2 kann sich auf eine widerrechtliche Drohung ggü dem Bürgen stützen (vgl – iE erfolglos – BGH NJW 02, 956: Drohung mit Entzug des ›Hausgelds‹). Oder auf eine widerrechtliche Drohung ggü dem Hauptschuldner: Wenn der Bürge mit dem Hauptschuldner emotional so eng verbunden ist (vgl Rn 31), dass er bei seiner Entscheidung auf die Belange des Hauptschuldners Rücksicht nimmt. Nicht widerrechtlich sind idR Drohungen des Gläubigers mit: (1.) Kündigung (BGH WM 97, 511, 412 [BGH 16.01.1997 - IX ZR 250/95]) bzw Nichtverlängerung des Kredits (BGH NJW 96, 1274, 1275 [BGH 18.01.1996 - IX ZR 171/95]); (2.) Zwangsvollstreckungsmaßnahmen (BGH WM 84, 1249), (3.) Strafanzeige (vgl BGH aaO 1250 u BGHZ 25, 217, 221, 223 ff; s aber BGH WM 73, 36, 37; vgl auch Rn 42, 53), (4.) Insolvenzantrag (MüKoBGB/Habersack § 765 Rz 39).
Rn 51
Ist eine Anfechtung wegen Versäumung der Anfechtungsfrist nach § 124 ausgeschlossen, kann der Bürge die Inanspruchnahme aus der Bürgschaft uU mit der Einrede des Rechtsmissbrauchs (§ 242) wegen Verletzung von Nebenpflichten (s Rn 62) oder der Arglisteinrede (§ 853; MüKoBGB/Wagner § 853 Rz 4) abwenden.