Prof. Dr. Eckart Brödermann
Gesetzestext
1Der Bürge kann die Befriedigung des Gläubigers verweigern, solange nicht der Gläubiger eine Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner ohne Erfolg versucht hat (Einrede der Vorausklage). 2Erhebt der Bürge die Einrede der Vorausklage, ist die Verjährung des Anspruchs des Gläubigers gegen den Bürgen gehemmt, bis der Gläubiger eine Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner ohne Erfolg versucht hat.
A. Einführung: Übersicht und begrenzte praktische Bedeutung.
Rn 1
Die Einrede der Vorausklage aus § 771 ist – wie auch § 770 II – Ausdruck der Subsidiarität der Bürgschaftsverbindlichkeit (Vor § 765 Rn 12). Die ergänzenden Regelungen in §§ 772 und 773 beschränken die Anforderungen an die vorrangige Inanspruchnahme des Hauptschuldners.
Rn 2
Der Begriff der ›Einrede der Vorausklage‹ ist irreführend, da die Klage gegen den Hauptschuldner weder erforderlich noch ausreichend ist (so treffend Staud/Stürner § 771 Rz 7; MüKoBGB/Habersack § 771 Rz 1). Notwendig ist ein erfolgloser Vollstreckungsversuch gegen den Hauptschuldner (§ 772). Die Erhebung einer (Voraus-)Klage kann in diesem Zusammenhang notwendig sein, um einen Titel als Grundlage für die Vollstreckung zu erwirken. Die erst 2002 durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz eingeführte Regelung in § 771 2 soll die Verjährung der Bürgschaftsforderung während des Zwangsvollstreckungsversuches vermeiden (BTDrs 14/7052, 206).
Rn 3
Die Regelung wird in der wirtschaftsrechtlichen Praxis meist abbedungen (auch durch AGB zulässig, Köln WM 19, 1637 f): Das BGB sieht die selbstschuldnerische Bürgschaft in § 773 I Nr 1 ausdrücklich vor, s Vor § 765 Rn 30 u § 773 Rn 4. Häufig ordnet das Gesetz selbst die selbstschuldnerische Bürgschaft an (s § 773 Rn 2 f zur Tragweite solcher Regelungen); so in: (1.) §§ 232 II, 239 II für die Sicherheitsleistung durch Bürgen, (2.) §§ 566 II 1, 578 für die Haftung des Wohnraum oder ein Grundstück veräußernden Vermieters als Bürge, (3.) § 773 I Nr 2–4 für Vollstreckungsschwierigkeiten ggü dem Hauptschuldner (inkl Insolvenz), (4.) § 1251 II für die Haftung des Pfandgläubigers als Bürge beim Pfandrechtsübergangs, (5.) § 349 HGB für den kaufmännischen Verkehr, (6.) § 2 II 3 MaBV für Bauträgerbürgschaften (s § 765 Rn 87), (7.) § 257 II InsO für bestimmte Verpflichtungen eines Dritten für die Erfüllung eines Insolvenzplans, (8.) § 28e II 1 SGB IV für die Haftung des Entleihers von Arbeitnehmern für Sozialversicherungsbeiträge, dazu BGH NJW 05, 884, 886 [BGH 02.12.2004 - IX ZR 200/03], (9.) § 36 II 2 VerlG für die Haftung der Insolvenzmasse eines Verlegers bei der Übertragung von Verlagsrechten. In diesen Fällen ist eine Einschränkung der selbstschuldnerischen Verpflichtung jedenfalls durch AGB unzulässig (BGHZ 169, 1, 15 f zum Erfordernis eines vorherigen Urteils gegen oder Vergleichs mit dem Hauptschuldner).
Rn 4
§ 771 ist nicht entspr anwendbar auf die Wechselverpflichtung (BGHZ 45, 210, 212), den Garantievertrag (MüKoBGB/Habersack § 771 Rz 2) sowie den Schuldbeitritt (Staud/Stürner Vorbem zu § 765 Rz 396).
B. Voraussetzungen.
I. Erfolgloser Vollstreckungsversuch.
Rn 5
Es genügt die Zwangsvollstreckung aufgrund irgendeines Titels iSd §§ 704 I, 794 ZPO. Eine Verurteilung des Hauptschuldners ist nicht notwendig (Staud/Stürner § 771 Rz 7). Ausreichend ist idR ein Zwangsvollstreckungsversuch (Mot II 669); für Geldforderungen bestimmt § 772 den an die Vollstreckungs- und Verwertungspflicht gestellten Umfang (s § 772 Rn 1). Dem Bürgen steht die Einrede der Vorausklage selbst dann nicht zu, wenn der Hauptschuldner nach dem Zwangsvollstreckungsversuch wieder zu Vermögen gekommen ist (RGZ 92, 219, 220; Staud/Stürner § 771 Rz 7). Der Zwangsvollstreckungsversuch muss nach Abschluss des Bürgschaftsvertrages erfolgt sein: Zuvor durchgeführte Vollstreckungsversuche genügen nicht, um die Einrede der Vorausklage auszuschließen (MüKoBGB/Habersack § 771 Rz 3).
Rn 6
Bei Gesamtschuldnern muss der Gläubiger nur diejenigen Gesamtschuldner in Anspruch nehmen, für die der Bürge die Haftung übernommen hat (MüKoBGB/Habersack § 771 Rz 4). Bei einer Bürgschaft für Verbindlichkeiten einer Personengesellschaft ist daher ein erfolgloser Zwangsvollstreckungsversuch in das Vermögen von jedem persönlich haftenden Gesellschafter erforderlich (Staud/Stürner § 771 Rz 8; MüKoBGB/Habersack § 771 Rz 4; Soergel/Gröschler § 771 Rz 4; aM Grüneberg/Sprau § 771 Rz 1; RGRK/Mormann § 771 Rz 1): Denn der Bürge soll nach dem Leitbild des Gesetzgebers erst nach der Haftungsmasse der Gesellschaft haften, zu der bei der OHG – und begrenzt bei der KG – auch das Vermögen der Gesellschafter gehört (§§ 161 II, 126 HGB). Wer dies vermeiden will (Stichwort: Publikums-KG), muss § 771 abbedingen: s Rn 3.
Rn 7
Der Bürge kann den Gläubiger durch die Einrede der Vorausklage nicht auf eine vorherige Inanspruchnahme eines Schuldmitübernehmers – zB aus Firmenfortführung – verweisen (RG JW 11, 158: zu § 25 HGB; Staud/Stürner § 771 Rz 8; s.a. Hambg OLGE 34, 82: Haftung aus Wechselakzept).
II. Ausnahmen und Sonderfälle.
Rn 8
Bei einer Ausfallbürgschaft ist die Erhebung der Einrede der Vorausklage nicht notwendig (s § 765 Rn 72 ff). Dem Nachbürgen (s § 765 Rn 94 ff) st...