Prof. Dr. Eckart Brödermann
1. Überblick.
Rn 7
Nach § 773 I Nr 2 entfällt die Einrede der Vorausklage, sofern die Rechtsverfolgung aufgrund im Gesetz näher bezeichneter (Lebens- bzw Wirkungs-)Umstände des Hauptschuldners im Vergleich zu seinen Verhältnissen bei Übernahme der Bürgschaft wesentlich erschwert ist. Treten diese ein, kann der Bürge unmittelbar in Anspruch genommen werden: Ab Abschluss des Bürgschaftsvertrags trägt der Bürge das wirtschaftliche Risiko der Veränderung der Umstände beim Hauptschuldner, die die Rechtsverfolgung wesentlich erschweren (da der Bürge weiterhin nur akzessorisch haftet, bleiben ihm die aus der Akzessorietät folgenden Einreden). Die Einrede der Vorausklage aus § 771 lebt aber wieder auf, wenn die Erschwerung nachträglich wegfällt (und damit auch die Voraussetzung des § 773 I Nr 2); der Bürge trägt hierfür die Beweislast (Erman/Zetzsche § 773 Rz 6).
2. Voraussetzungen.
Rn 8
Die Rechtsverfolgung, die nach § 773 I Nr 2 erschwert sein muss, umfasst das Verfahren von der Einleitung der Klage bis zur Durchführung der Zwangsvollstreckung (Colmar Recht 1906, 50, Nr 32, vgl §§ 771 Rn 1, 5 ff; 772 Rn 2, 4) sowie die Befriedigung aus einem Pfand- oder Zurückbehaltungsrecht nach § 772 II (Erman/Zetzsche § 772 Rz 9).
Rn 9
Ob eine wesentliche Erschwerung durch Änderung des Wohnsitzes, der gewerblichen Niederlassung oder des Aufenthaltsorts des Hauptschuldners vorliegt, ist vom Gericht nach freiem Ermessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden (Staud/Stürner § 773 Rz 6; MüKoBGB/Habersack § 773 Rz 7). Es ist dabei abzuwägen, ob die Erschwerung so wesentlich ist, dass sie die sofortige Inanspruchnahme des Bürgen rechtfertigt, oder ob sich ggf zusätzlich erforderliche Anstrengungen des Gläubigers zur Rechtsverfolgung ggü dem Hauptschuldner unter Berücksichtigung der Umstände der Bürgschaft noch im zumutbaren Toleranzbereich bewegen (vgl MüKoBGB/Habersack aaO). In der Änderung des Wohnsitzes oder des Aufenthaltsortes innerhalb Deutschlands liegt idR keine wesentliche Erschwerung (RGZ 6, 154, 156). Sie kann aber darauf beruhen, dass der neue Wohnsitz unbekannt ist, der Aufenthaltsort häufig wechselt oder der Hauptschuldner sich vor seinen Gläubigern verborgen hält (Colmar Recht 1906, 50, Nr 32).
Rn 10
Verlegt der Schuldner seinen Wohnsitz, seine gewerbliche Niederlassung oder seinen Aufenthaltsort ins Ausland, so führt das häufig zu einer wesentlichen Erschwerung (s zB Düsseldorf NJOZ 12, 487; Erman/Zetzsche § 773 Rz 6; vgl RGZ 137, 1, 12f): Diese liegt meist bereits in zusätzlich erforderlichem Aufwand (ggf Duplizierung der Anwaltskosten, Zustellungsaufwand, Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren). Folgende Umstände können – insb wenn sie kumulativ vorliegen – gegen eine wesentliche Erschwerung sprechen: (1.) Wechsel in einen Mitgliedstaat der EU oder des LugÜ (Schweiz, Norwegen), vgl Jauernig/Stadler § 773 Rz 4, MüKoBGB/Habersack § 773 Rz 7; (2.) verbleibender deutscher Gerichtsstand nach EuGVO/LugÜ; (3.) Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten im Inland (vgl § 184 I ZPO); (4.) verbleibendes bewegliches Vermögen (vgl § 772 Rn 2) im Inland (zB bei den Eltern während Studium des Hauptschuldners im Ausland).
Rn 11
Bei juristischen Personen entspricht die Änderung des Verwaltungssitzes der Änderung des Wohnsitzes einer natürlichen Person (Staud/Stürner § 773 Rz 6; RGZ 137, 1, 12 f; KG OLGZ 82, 253). Es ist im Einzelfall unter Berücksichtigung des Internationalen Gesellschaftsrechts (s IPR-Anh 4/IntGesR Rn 10 XIV.) zu entscheiden, ob eine wesentliche Erschwerung vorliegt. Dabei kann zu berücksichtigen sein, dass zB eine aus Deutschland wegziehende Gesellschaft in Deutschland noch als Liquidationsgesellschaft vorhanden bleibt. Die Sitzverlegung einer ausländischen Hauptschuldnerin – zB von Den Haag nach Paris – bleibt aus deutscher Sicht jedenfalls im Anwendungsbereich der EuGVO/des LugÜ neutral. Der Wegfall des Verwaltungssitzes durch Löschung ist der Änderung des Verwaltungssitzes gleichzustellen (KG OLGZ 82, 253: für liechtensteinische Anstalt; MüKoBGB/Habersack § 773 Rz 7).
Rn 12
IÜ gilt § 773 I Nr 2 nicht für Fälle, in denen die Erschwerung der Rechtsverfolgung nicht auf einem Ortswechsel beruht, zB Tod, Teilnahme an Krieg (Staud/Stürner § 773 Rz 6; Karlsr OLGE 32, 272f).