Prof. Dr. Eckart Brödermann
Rn 1
Die Vorschrift gewährt dem Bürgen – auch dem selbstschuldnerischen iSv § 773 I Nr 1 (Mot II 677; RGZ 8, 260, 263; Staud/Stürner § 775 Rz 7) – unter bestimmten Voraussetzungen für die Zeit bis zur Inanspruchnahme durch den Gläubiger einen Befreiungsanspruch gegen den Hauptschuldner, wenn zwischen dem Bürgen und dem Hauptschuldner im Innenverhältnis ein Auftrag oder ein ähnliches Rechtsverhältnis besteht (Rn 6) und sein Rückgriffsanspruch durch den Eintritt einer der in § 775 I Nr 1–4 beschriebenen Tatbestände (Rn 9 ff) gefährdet wird (RG JW 27, 1689 Nr 17; 35, 3529 Nr 2). Nach der Befriedigung des Gläubigers tritt an seine Stelle der Regressanspruch aus § 774 I.
Rn 2
Der Anspruch des Bürgen ist nur auf Befreiung gerichtet; einen Zahlungsanspruch erwirbt der Bürge erst, wenn und soweit er den Gläubiger befriedigt, § 774 I (BGHZ 140, 270, 273 f; NJW 00, 1643, 1644). Selbst in Fällen, in denen die Zahlungsunfähigkeit des Hauptschuldners und die Inanspruchnahme des Bürgen feststehen oder der Gläubiger den Bürgen bereits in Anspruch nimmt, wandelt sich der Befreiungsanspruch weder in einen Anspruch des Bürgen auf Zahlung an sich selbst (BGHZ aaO; MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 11) noch in einen Anspruch auf Zahlung an den Gläubiger um (BGH NJW aaO). Daher kann ein Bürge – mangels Gleichartigkeit der Ansprüche – mit seinem Befreiungsanspruch nicht gegen einen Zahlungsanspruch des Hauptschuldners aufrechnen (BGHZ 140, 270, 274; BeckOKBGB/Rohe § 775 Rz 10).
Rn 3
Außerhalb des Bürgschaftsrechts ist § 775 analog anwendbar auf eine Grundschuldbestellung, die der Besteller aufgrund eines Auftrags oder auftragsähnlichen Verhältnisses (s Rn 6) zur Sicherung einer fremden Verbindlichkeit auf seinem Grundstück bestellt (LG Karlsruhe MDR 01, 624 [LG Karlsruhe 25.07.2000 - 7 O 475/98]; konsequent MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 3: auch auf andere Fälle der Bestellung dinglicher Sicherheiten). Hingegen ist die Bestimmung nicht entspr anwendbar auf die bloße Mitunterschrift auf einem Wechsel, die keine Bürgschaft begründet (Marienwerder Recht 1905, 431 Nr 1744) oder auf die Schuldmitübernahme (Staud/Stürner § 775 Rz 7; aA MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 3).
Rn 4
§ 775 ist dispositiv. Der Bürge kann ggü dem Hauptschuldner auf den Befreiungsanspruch verzichten, den Anspruch einschränken, konkretisieren oder Erweiterungen vereinbaren (BGH NJW 95, 2635, 2637 [BGH 23.06.1995 - V ZR 265/93]; Erman/Zetzsche § 775 Rz 2; Jauernig/Stadler § 775 Rz 3; aA für den formularmäßigen Verzicht: MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 5). Ein Verzicht ist als Teil der Gestaltung des Auftragsverhältnisses zwischen dem Bürgen (Auftragnehmer) und dem Hauptschuldner – nicht: Gestaltung des Bürgschaftsvertrags zwischen dem Bürgen und dem Gläubiger – nicht formbedürftig (RGZ 59, 10, 13 f; Staud/Stürner § 775 Rz 13; Grüneberg/Sprau § 775 Rz 1; Jauernig/Stadler § 775 Rz 3; aA MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 5).
Rn 5
Eine entspr Verzichtserklärung kann der Bürge ggü dem Gläubiger individualvertraglich auch zu Gunsten des Hauptschuldners (§ 328 I) im Bürgschaftsvertrag (arg BGH LM § 775 Nr 1; noch ohne AGB-Würdigung) oder einer formgerechten Nebenabrede (s § 766 Rn 6) erklären. In Bürgschafts-AGB kann solch ein Verzicht überraschend (§ 305c) und unangemessen (§ 307) sein (Staud/Stürner § 775 Rz 14).