Prof. Dr. Eckart Brödermann
I. Auftrag oder ein ähnliches Rechtsverhältnis.
Rn 6
Nach § 775 I muss im Innenverhältnis zwischen dem Hauptschuldner und dem Bürgen (Auftragnehmer) ein Auftrag oder eine Geschäftsführung ohne Auftrag vorliegen (s § 765 Rn 7). Die Norm ist ferner auf folgende auftragsähnliche Rechtsverhältnisse anzuwenden: (1.) die entgeltliche Geschäftsbesorgung (BGH NJW 00, 1643); (2.) die Bürgschaft eines ausscheidenden Gesellschafters, da dieser entspr den Grundsätzen aus § 738 I wie ein Auftragnehmer von seiner Verpflichtung aus der Bürgschaft freizustellen ist (BGH WM 74, 214, 215; WM 89, 406, 407; Staud/Stürner § 775 Rz 3; Grüneberg/Sprau § 775 Rz 1); (3.) dementspr die Bürgschaft des Gesellschafters, dessen GmbH-Anteil eingezogen wird (Hambg ZIP 84, 707); (4.) den Kreditauftrag (s § 778 Rn 1) im Verhältnis zwischen dem (einem Bürgen gleichgestellten) Kreditauftraggeber iSv § 778 und dem (einem Hauptschuldner gleichgestellten) Kreditempfänger. Da die Erteilung des Kreditauftrags dem Interesse und Willen des Kreditempfängers meist entspricht, ist zumindest eine Geschäftsführung ohne Auftrag regelmäßig gegeben (RG WarnR 30 Nr 135 271).
Rn 7
§ 775 modifiziert und begrenzt die sich aus dem Innenverhältnis ergebenden (gesetzlichen) Regelungen des Auftragsrechts: Der unbeschränkte Befreiungsanspruch aus §§ 683, 670, 257 wird auf die in § 775 I bestimmten Fälle begrenzt (RGZ 59, 10, 11f). Der Anspruch auf Vorschuss (§ 669) wird, da er dem Sinn und Zweck der Bürgschaft nicht entspricht, durch § 775 ausgeschlossen (BGHZ 140, 270, 274; BeckOKBGB/Rohe § 775 Rz 10); ebenso das jederzeitige Kündigungsrecht des § 671 I, II (Erman/Zetzsche § 775 Rz 1; Grüneberg/Sprau § 775 Rz 1).
II. Gefährdung des Rückgriffsanspruchs (§ 775 I Nr 1–4).
Rn 8
Der Hauptschuldner ist verpflichtet, den Bürgen über Tatsachen zu informieren, die dessen Rückgriffsanspruch gefährden (Staud/Stürner § 775 Rz 5; Erman/Zetzsche § 775 Rz 1). Soweit ein Auftrag oder auftragsähnliches Verhältnis (Rn 6) vorliegt, begründen folgende – in § 775 I abschließend aufgezählte Tatbestände (Staud/Stürner § 775 Rz 8) – einen Befreiungsanspruch (dabei kommt es ggf auf den Abschluss der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung der Klage des Bürgen gegen den Hauptschuldner an, vgl entspr § 773 Rn 14):
1. Wesentliche Vermögensverschlechterung (Nr 1).
Rn 9
Das Tatbestandsmerkmal der wesentlichen Vermögensverschlechterung ist wie bei §§ 321 I 1, 490 I zu verstehen. Dabei sind die Vermögensverhältnisse des Hauptschuldners (inkl Art und Höhe seiner Verbindlichkeiten) im Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme und der Geltendmachung des Befreiungsanspruchs zu vergleichen (Staud/Stürner § 775 Rz 8). Eine wesentliche Verschlechterung liegt vor, wenn der Hauptschuldner nicht mehr in der Lage ist, besonders wichtige und dringende Verbindlichkeiten zu erfüllen, wie zB Steuern, Zinsen und Arztrechnungen (RGZ 150, 77, 78). Der mehrfache Verzug mit Teilzahlungen (zB Unterhaltsverpflichtungen) kann Indiz für eine wesentliche Vermögensverschlechterung des Hauptschuldners sein (BGH JZ 68, 230, 231 [BGH 10.01.1968 - VIII ZR 164/65]; s.a. Rn 13 zum Indiz des ›bereinigten Verzugs‹).
Rn 10
An einer nach dem Normzweck von § 775 erforderlichen Gefährdung des Regressanspruchs (s Rn 1) kann es fehlen, wenn der Bürge hinreichend durch eine Rückbürgschaft gesichert ist (MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 6). Ebenso liegt trotz Auflösung und Vollbeendigung einer Personengesellschaft (als Hauptschuldnerin) keine Gefährdung vor, wenn und soweit die Vermögensverhältnisse von mindestens einem der persönlich haftenden Gesellschafter eine gleichwertige Sicherheit für den Rückgriff bieten (RG JW 27, 1689, 1690: für OHG).
Rn 11
Haben sich die Vermögensverhältnisse des Hauptschuldners wieder gebessert, entfällt der Befreiungsanspruch (MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 6).
2. Wesentliche Erschwerung der Rechtsverfolgung gegen den Hauptschuldner (Nr 2).
Rn 12
Eine wesentliche Erschwerung der Rechtsverfolgung infolge Änderung des Wohnsitzes, der gewerblichen Niederlassung oder des Aufenthaltsorts (Nr 2) liegt unter den gleichen Voraussetzungen vor wie bei § 773 I Nr 2 (s § 773 Rn 7 ff).
3. Verzug (Nr 3).
Rn 13
Die Regelung in Nr 3 setzt einen Verzug des Hauptschuldners voraus. Der Befreiungsanspruch des Bürgen entfällt, wenn der Hauptschuldner die Hauptforderung nachträglich tilgt (RG JW 35, 3529 Nr 2; BGH JZ 68, 230, 231 [BGH 10.01.1968 - VIII ZR 164/65]); ein durch Zahlung ›bereinigter‹ Verzug kann aber ein Indiz für eine wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Hauptschuldners iSd § 775 I Nr 1 sein (RG u BGH aaO). Stundet der Gläubiger dem Hauptschuldner nachträglich die Hauptforderung, entfällt der Befreiungsanspruch des Bürgen nicht (RG aaO), es sei denn dieser hat der Stundung zugestimmt (RGZ 59, 10, 12f). Dem Bürgen steht der Befreiungsanspruch nach § 775 I Nr 3 unabhängig davon zu, ob er noch andere Sicherungsrechte hat (RGZ 59, 10, 13; MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 8); denn das Recht auf Befreiung ist wertvoller (vgl Rn 16) als das auf Sicherheitsleistung (RGZ aaO). Gerät der Hauptschuldner mit einer Teilleistung in Verzug, hat der Bürge nur einen Befreiungsanspruch in einer der Teilleistung entspr Höhe (BGH JZ 68, 230, 231 [BGH 10.01.1968 - VIII ZR 164/65]).
4. Vollstreckbares Urteil des Gläubigers gegen den Bürgen (Nr 4).
Rn 14
Unte...