Prof. Dr. Eckart Brödermann
1. Tatbestandsvoraussetzungen.
a) Falsche Sachverhaltsgrundlage.
Rn 22
Der von den Parteien nach dem Inhalt des Vergleichs als feststehend zugrunde gelegte Sachverhalt – das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein tatsächlicher Gegebenheiten außerhalb des Streits oder der Ungewissheit – entspr nicht der Wirklichkeit (BGHZ 155, 342, 351; VersR 03, 1174). Zum Sachverhalt gehört alles, was die Parteien als geschehen und bestehend angenommen haben (vgl zB Lenke/Liebrecht ZOV 06, 9, 14 f: Verkennung des AGB-Charakters einer Klausel) und in der Vergleichsvereinbarung zum Ausdruck gekommen ist (BGH JZ 63, 128, 129; DB 76, 141). Bloße Zukunftserwartungen wie die wirtschaftliche Entwicklung (BGH NJW-RR 86, 945, 946; BAG ZIP 00, 1781, 1785f), die künftige Rechtslage (RGZ 117, 307, 309 f; Schlesw BKR 06, 158, 159: außer wenn erkennbar Grundlage des Vergleichs) oder der Fortbestand einer bestimmten Rspr (BGHZ 58, 355, 361 f; NJW 13, 1530, 1531) sind indes nicht als Sachverhalt iSd § 779 anzusehen (BGH WM 61, 975, 976). Der Sachverhalt ist unrichtig, wenn die Vorstellung der Parteien von der Wirklichkeit abweicht. Erforderlich und ausreichend ist objektive Unrichtigkeit. Es ist nicht notwendig, dass die Parteien die Unrichtigkeit der Vergleichsgrundlage später anerkannt haben (RGZ 112, 215, 218).
Rn 23
Die Unterscheidung nach (für § 779 irrelevanten) Rechtsirrtümern und (für § 779 allein maßgeblichen) Sachverhaltsirrtümern (so noch RGZ 112, 215, 218; Hamm NJW-RR 97, 1429; einschränkend BGH WM 63, 594, 597) ist kaum durchführbar. Daher können sowohl Rechtsirrtümer als auch Sachverhaltsirrtümer unter § 779 fallen (LG Tübingen NJW-RR 97, 472, 473 [LG Tübingen 07.03.1996 - 1 S 5/95]; Erman/Müller § 779 Rz 29; MüKoBGB/Habersack § 779 Rz 65; Grüneberg/Sprau § 779 Rz 14; offengelassen: BGHZ 155, 342, 351 f; WM 04, 1100, 1101). Ein Irrtum über Umstände, die der Vergleich gerade beheben soll, die mithin Gegenstand des Vergleichs sein sollen, führt nicht zur Anwendung des § 779 I und ist unbeachtlich (BGH NJW 07, 838 [BGH 21.12.2006 - VII ZR 275/05]). Dies gilt auch für einen Irrtum über in der Rspr später entwickelte Einwendungen (Frankf BeckRS 07, 03892).
b) Kausalität des Irrtums.
Rn 24
Ferner ist für die Unwirksamkeit des Vergleiches nach § 779 erforderlich, dass der Streit oder die Ungewissheit bei Kenntnis der Sachlage nicht entstanden wäre. Der Vergleich muss mithin auf dem gemeinsamen Irrtum über bestimmte tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse beruhen (BeckOKBGB/Fischer § 779 Rz 45). Irrelevant ist, ob zwischen den Parteien bei Kenntnis der Sachlage überhaupt kein Streit oder gar keine Ungewissheit entstanden wäre. Es genügt auch nicht, wenn die Parteien bei Kenntnis der Sachlage einen Vergleich mit einem anderen Inhalt geschlossen hätten. Vielmehr ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass der Streit oder die Ungewissheit bei Kenntnis der wahren Rechtslage nicht entstanden wäre (RGZ 122, 201, 203; 149, 140, 142; Zweibr FamRZ 08, 995).
2. Rechtsfolge.
Rn 25
Liegen die Voraussetzungen von § 779 vor, ist der Vergleich unwirksam. Die Unwirksamkeit des Vergleichs erfasst nicht das abstrakte Erfüllungsgeschäft (Erman/Müller § 779 Rz 32; Grüneberg/Sprau § 779 Rz 21). Das ergibt sich aus der schuldrechtlichen Natur des Vergleichs (s Rn 2). Die Rückabwicklung richtet sich daher nach §§ 812 ff. Differenzierende Ansichten, die dem Vergleich im Einzelfall Verfügungscharakter zusprechen (s Rn 2) kommen abw zu der Rechtsfolge, dass die Unwirksamkeit des Vergleichs direkt zur Nichtigkeit etwaiger Vollzugsakte führt, die ursprüngliche Rechtslage mithin automatisch wieder hergestellt wird (Staud/Hau § 779 Rz 174f).
Rn 26
Haben die Parteien des Vergleichs die Rechtsfolgen des Fehlens oder des Wegfalls der Geschäftsgrundlage ausdrücklich geregelt, so ist für eine Berufung auf § 779 I kein Raum (s Rn 29). Ist der Vergleich unwirksam, kommt eine Heilung durch Erfüllung nicht in Betracht (RGZ 79, 240, 241). Eine Anpassung des Vergleichs an die veränderten Umstände ist – anders als beim Normalfall des Fehlens oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§ 313) – nicht möglich (Erman/Müller § 779 Rz 32). Bei Teilwirksamkeit des Vergleichs gilt § 139 (Köln OLGZ 72, 42, 49).