aa) Überblick.
Rn 41
Neben den Fällen wirkungsloser Produkte (s.o. Rn 39) und Konstellationen eines Produktrückrufs (s.u. Rn 188) treten va bei ›Weiterfresserschäden‹/›weiterfressenden Mängeln‹ Überschneidungen zwischen Delikts- und Vertragsrecht auf: Mangelhafte Leistungen iRe Kauf- oder Werkvertrags können auch zu Eigentumsverletzungen führen. Durch konkurrierende Deliktsansprüche könnten ggf Restriktionen der Sachmängelgewährleistung (zB kürzere Verjährung, Vorrang der Nacherfüllung) vermieden werden, so dass das differenzierte System vertragsrechtlicher Mängelgewährleistung ›ausgehebelt‹ würde. Ausgangspunkt der daher erforderlichen Abgrenzung ist, dass die Vertragshaftung das Äquivalenzinteresse des Vertragspartners (Regelfall: Qualitätsmängel des Vertragsgegenstands), die Deliktshaftung das Integritätsinteresse (Regelfall: Beschädigung anderer Rechtsgüter, nicht des Vertragsgegenstands) betrifft. Entscheidend zur Entwicklung der ›Weiterfresser‹-Rspr, die im internationalen Vergleich weitgehend singulär ist, hat die frühere, für den Käufer ungünstigere kaufrechtliche Verjährungsfrist beigetragen (zu fortbestehenden Problemen der kurzen kaufrechtlichen Verjährung Gildeggen VuR 16, 83 ff). Seit der Schuldrechtsmodernisierung 2002 dürfte die Problematik – wegen der Angleichung kauf- und werkvertraglicher Regelungen – für Werkverträge (insb bei Mangelfolgeschäden aufgrund mangelhafter Bauwerke) von stärkerer Bedeutung sein (BeckOGK/Spindler § 823 Rz 154; Schaub VersR 01, 940 ff; s jetzt auch BGH NJW 21, 1883 Rz 16, dazu zB Finkelmeier VersR 21, 647 ff; Glöckner NZBau 21, 448, 448 ff; Schwenker MDR 21, 1037, 1041; Thode jurisPR-PrivBauR 10/21 Anm 2), sie ist auch bei der Haftung für die Folgen von Softwarefehlern bedeutsam (s.a. G Wagner AcP 2017, 707, 723f).
Rn 42
Bei ›Weiterfresserschäden‹ im ursprünglichen Sinne des Begriffs ist zunächst nur ein Teil des Vertragsgegenstands mangelhaft, aber der Mangel wirkt sich später auf die gesamte Sache aus. Bsp: Durch einen defekten Schwimmerschalter gerät eine Reinigungs- und Entfettungsanlage in Brand (BGHZ 67, 359) – ›Weiterfresserschäden ieS‹. Weiterhin werden Fälle erfasst, in denen der Erwerber einen mangelhaften Gegenstand zur Schaffung eines Produkts oder zur Herstellung eines Bauwerks verwendet und durch diese Verarbeitung ein neuer, mangelhafter Gegenstand geschaffen wird, bei dem das ursprünglich allein mangelhafte Einzelteil nicht ohne Beschädigung des Gesamtgegenstands oder -bauwerks entfernt werden kann. Bsp: Lieferung mangelhafter Kondensatoren zum Einbau in elektronische Regler (BGHZ 117, 183). Dabei handelt es sich genau genommen um eine zweite, eigenständige Fallgruppe – ›Weiterfresserschäden iwS‹ (näher zu Terminologie und Beispielen Schaub Haftung und Konkurrenzfragen bei mangelhaften Produkten und Bauwerken im deutschen und englischen Recht 99, 18 ff).
bb) ›Weiterfresserschäden ieS‹.
Rn 43
›Weiterfresserschäden ieS‹ fallen in den Grenzbereich zwischen Vertrags- und Deliktshaftung: Bei der Sachmängelgewährleistung ist problematisch, dass im Zeitpunkt des Gefahrübergangs ein Teilmangel vorhanden ist, der erst später auf die Gesamtsache übergreift. Bei der Deliktshaftung bereitet das Erfordernis einer Verletzung des Integritätsinteresses Probleme. Entscheidend ist daher die Grenzziehung zwischen deliktsrechtlich relevanter Eigentumsverletzung und nicht ersatzfähigem reinem Vermögensschaden.
Rn 44
Die Rspr geht von uneingeschränkter Konkurrenz vertrags- und deliktsrechtlicher Ansprüche aus (s insb BGHZ 67, 359, 362 f; NJW 78, 2241, 2242; 04, 1032, 1033; 21, 1883 Rz 10). Heute sieht sie für das Vorliegen einer Eigentumsverletzung nicht mehr den Mangel eines ›funktionell begrenzten Einzelteils‹ (BGHZ 67, 359, 364 f; NJW 78, 2241), sondern fehlende ›Stoffgleichheit‹ zwischen Mangelunwert und Schaden als entscheidend an (BGHZ 86, 256, 258 f; NJW 83, 813; 05, 1423, 1425 ff; 21, 1883 Rz 11, 15 ff mit Präzisierung für Werkverträge, wobei hier mit der Revisionserwiderung sinnvoller auf den Schutzumfang der verletzten Pflichten abzustellen gewesen wäre).
Rn 45
In der Lit existieren zahlreiche abweichende Lösungsvorschläge (ausf Schaub Haftung und Konkurrenzfragen bei mangelhaften Produkten und Bauwerken im deutschen und englischen Recht 99, 24 ff): Die vertragsrechtlichen Lösungen reichen von einer Anwendung der kaufrechtlichen Mängelgewährleistungsregeln (zB Brüggemeier 338 ff; ders JZ 99, 99 [BGH 31.03.1998 - VI ZR 109/97]) über Garantiehaftung (de lege ferenda G Hager AcP 1984, 413, 432 ff; ders BB 87, 1748, 1751) bis zum Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte (insb Schwenzer JZ 88, 525, 531; Canaris FS Larenz II 27, 100f). Die deliktsrechtlichen Lösungen entwickeln teilw andere Kriterien als die Rspr für die Abgrenzung zwischen Eigentumsverletzung und reinem Vermögensschaden, zB Verursachung des Schadens durch Unfall bzw irregulären Geschehensablauf (Lang Zur Haftung des Warenlieferanten bei ›weiterfressenden‹ Mängeln im deutschen und anglo-amerikanischen Recht 81, 181; Mayer BB 84, 318, 319f), Differenzierung...