I. Einführung.
Rn 19
Mit Gesetz vom 17.7.2017 (BGBl I 2017, 2421) ist Abs 3 neu eingefügt worden. Für alle Verletzungen ab dem 22.7.2017 sieht die Norm nunmehr vor, dass den Hinterbliebenen ein Hinterbliebenengeld – eine ›angemessene Entschädigung in Geld‹ zu zahlen sei, wenn ein besonderes persönliches Näheverhältnis besteht (ausf hierzu Huber/Kadner Graziano/Luckey). Die Norm – insbesondere motiviert durch den ›Germanwings‹-Absturz und die anschließende öffentliche Diskussion über die Kompensation von Todesfällen – schafft erstmals im deutschen Recht einen originären Anspruch für die Hinterbliebenen eines Todesfalls, die bislang nur, wenn sie (in Gestalt des Trauerschmerzes) eigene Gesundheitsbeeinträchtigungen darlegen konnten, ein Schmerzensgeld für Schockschäden erhalten konnten (dazu § 253 Rn 2).
II. Tatbestand.
1. Allgemeines.
Rn 20
Der Tatbestand erfordert eine (deliktische) Verantwortlichkeit für die Tötung eines Menschen. Im reinen Vertragsrecht gilt § 844 nicht. Parallele Regelungen finden sich aber in § 86 Abs 3 AMG, § 32 Abs 4 GenTG, § 7 Abs 3 ProdHaftG, § 12 Abs 3 UmweltHaftG, § 28 Abs. 3 AtomG, § 10 Abs. 3 StVG, § 5 Abs 3 HaftPflG und § 35 Abs 3 LuftVG. Für die Kausalität der haftungsbegründenden Handlung zum Todeseintritt gilt Rn 8 entsprechend.
2. Näheverhältnis.
Rn 21
Weiter ist erforderlich, dass der Hinterbliebene (str, ob hierunter auch der nasciturus fällt, abl München r+s 21, 598) zu dem Getöteten in einem ›besonderen persönlichen Näheverhältnis‹ stand, und zwar im Zeitpunkt der Verletzung. Dies wird in S 2 gesetzlich vermutet für den Ehegatten bzw. (eingetragenen) Lebenspartner, die Kinder und Eltern. Zwar steht der Beweis des Gegenteils offen, dürfte aber schwerlich gelingen, allenfalls dann, wenn zB die Ehepartner zur Zeit der Verletzung bereits länger in Trennung gelebt hatten (Traunstein NZV 20, 467). Gleichwohl wird man – und sei es auch nur aus Pietät – keine sekundäre Darlegungslast des nach S 2 Privilegierten über die Qualität seiner Beziehung verlangen können. Nach dem Wortlaut offen ist, ob das Näheverhältnis auch noch im Zeitpunkt des Todes bestehen muss (etwa: Entfremdung der Eheleute nach Verletzung des Geschädigten). Sonstige Hinterbliebene müssen ein Näheverhältnis darlegen. Hierfür ist eine Nähebeziehung erforderlich, die an Intensität den in S 2 genannten Situationen ähnlich ist; die Gesetzesbegründung (BTDrs 18/11397 S 13) nennt nichteheliche Lebensgemeinschaften, Stief- und Pflegekinder oder Geschwister. Auf die Dauer einer Beziehung kommt es nicht an (Celle NZV 23, 180 [OLG Celle 21.09.2022 - 5 U 97/22] hat eine frische Beziehung nach drei Jahren ›Annäherung‹ genügen lassen). Indiziell kann etwa auf die Art und Qualität des Kontakts oder auf das Bestehen eines Haushaltsverbunds abgestellt werden; Kobl MDR 21, 168 [BGH 24.11.2020 - VI ZR 415/19] hat das Verhältnis zur Schwiegermutter genügen lassen.
III. Anspruchsfolge.
Rn 22
Anspruchsfolge ist eine ›angemessene Entschädigung in Geld‹ für ›das seelische Leid‹, was die Frage der Bemessung aufwirft. Der Bezug auf das ›seelische Leid‹ könnte in dem Sinne verstanden werden, dass das konkrete Leid entschädigt werden solle; dies wäre aber mit Blick auf die Gesetzesbegründung, einen gegenüber dem Schockschaden (bei dem es denknotwendig auf die Bemessung des konkret erlittenen Schocks als eigenem Gesundheitsschaden ankommt) eher kontraproduktiv. Gleichwohl ist das Hinterbliebenengeld (wie das Schmerzensgeld, § 253, auch) nach Ansicht des BGH nicht schematisch, sondern unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles zu bemessen, wobei zu berücksichtigen sei, dass die Entschädigung Ausgleich für die seelischen Beeinträchtigungen und Genugtuung für die Herbeiführung des Todes einer geliebten Person bieten solle (BGH NJW 23, 1438 [BGH 20.12.2022 - VI ZR 375/21]). Auch die Belastung sonstiger Familienangehöriger ist bei der Bemessung daher nur relevant, wenn sie das seelische Leid des Hinterbliebenen erhöht (BGH NJW 23, 2878 [BGH 23.05.2023 - VI ZR 161/22]: Tochter betreut nach Tod des Vaters den autistischen Bruder, der auf den Vater stark bezogen war und nun Verhaltensauffälligkeiten zeigt, die sie täglich an den Verlust erinnern). So richtig eine ›Einzelfallbetrachtung‹ ist, so schwierig ist doch ohnehin die ›angemessene‹ Kompensation eines nicht wiederbringlichen Verlustes durch Geld, wobei hinzutritt, dass jede(r) anders trauert und der ›klassische‹ Blick auf (dokumentierte) seelische Beeinträchtigungen denjenigen privilegieren wird, der ›öffentlichkeitswirksam‹ und vielleicht therapeutisch begleitet trauert, wohingegen auch derjenige, der den Schmerz ›in sich hineinfrisst‹, sich ›verkriecht‹ oder auch ›in Arbeit flüchtet‹, einen Verlust erlitten hat, der gleichermaßen Kompensation verdient. Wünschenswert wäre daher eine eher pauschale Bemessung. Auch die Gesetzesbegründung legt die Bemessung in die Hände der Judikatur, geht aber (in der Kostenschätzung) von 10.000 EUR Hinterbliebenengeld aus und verweist darauf, dass das – tatbestandlich vorausgesetzte – Näheverhältnis regelmäßig ein seelisches Leid ...